Michael A. Russ: „Die Realität hat mich noch nie interessiert.“

Michael A. Russ (c) Sonja Steppan

Unterbrochen vom gelegentlichen Baulärm an der Hausfassade gegenüber sitze ich mit Michael bei Käsekuchen, Erdbeertee und Zigaretten auf dessen Balkon im Herzen Neuköllns. Schon der Gang durch seine Wohnung mit zahlreichen Souvenirs in jedem Winkel, signierten Photos an den Wänden und persönlichen Schätzen wie etwa der Urne seiner Mutter, lässt mich daran zweifeln, dass ein einziger Nachmittag ausreichen könnte, der Fülle seiner Erinnerungen gerecht zu werden. Die Ereignisse seines bewegten Lebens, an denen er mich teilhaben lässt, entwickeln sich durch das Gespräch hinweg zu einem Kaleidoskop an Momentaufnahmen und Begegnungen mit bedeutsamen Persönlichkeiten, die Kunst und Musik im Laufe der Jahrzehnte prägten.

Was sein Bezug zur bayerischen Landeshauptstadt sei, meine erste Frage, der er eine Anekdote über die elterliche Urlaubsfahrt in Münchner Gefilde und die Berliner Notopfer-Steuermarke vorausschickt.

…und später war ich dann als US-Soldat in Bayern stationiert, in Bamberg und ganz Franken, als Siebzehn- bis Zwanzigjähriger. Ich hab dann irgendwann in Hamburg geheiratet zwischendurch, und lebte Off-Post, und erst in Amerika merkte ich, dass ich ein Herz für Bayern entwickelt hatte. Ich mag es dort unwahrscheinlich gerne! Ich mag die Straßen, und die Berge und das alles. Später im Leben habe ich dann in Ebersberg gelebt, aber auch zuvor hatte ich viele Freunde dort. Wann immer ich aus dem Ausland zu Besuch kam, sagten mir alle, ich solle doch nach München gehen. Da war alles! Aus der Zeit bin ich auch noch mit Charles Schumann befreundet. Aber erst war ich in Manhattan only, habe dort meine formativen Jahre verbracht, und gelernt, wie man sein eigenes Ding macht, egal wie lange es dauert. Von dort aus zog ich erst nach Paris und später L.A. Ich wollte eigentlich immer Filme machen, deswegen war ich auch nie konform als Fotograf, denn ein perfektes Bild kann ja jeder machen, der ein perfektes Bild anstrebt. Aber das wollte ich von Anfang an nicht, also ging auf die Schauspielschule.

War das die Schule von Renate Mannhardt?

Der Name sagt dir was? Nun, die wanderte irgendwann nach New York aus und kam zu Wohlstand, war eine Freundin von Ingrid Bergman. Die Schule war ein richtiger Workshop, da machste Fechten, und Pantomime, und Shakespearian, Sense Memory, also die Stanislawski-Methode und all das.

Warst du gut als Schauspieler?

I don’t think so. Da musste ich mir erstmal einen Agent verschaffen, und das war auch okay mit den Jobs, aber ich merkte, dass ich einen deutschen Akzent habe, man geht dann zum Casting und weiß eigentlich gar nicht was man macht! Also habe ich angefangen, meine Mitschauspieler zu fotografieren, und es kam die Modellagentur Wilhelmina an diese Bildern und meinte, “Mensch, das ist ja interessant, wer macht die denn?” Die Agentur begann, mir Models für Testshoots zu schicken. Dort ist das auch reibungslos abgelaufen, nicht wie hier, wo Testbilder so eine Gefälligkeit für den Booker sind, es ging nur nach Qualität. So fing es an mit Men’s Fashion, für GQ und Esquire zum Beispiel. Aber das mochte ich nicht sehr, es war nicht besonders challenging. Auch als ich anfing, an Büchern mitzuwirken, hatte ich immer das Filmische im Hinterkopf.


Das merkt man ja auch an der Tom Waits Serie, dass du großen Wert auf eine cineastische Umsetzung legst.

Ja richtig! Der Stil meiner Bilder war zu der Zeit schon sehr körnig, als ob sie direkt von der Leinwand abfotografiert worden wären. Ich habe lange zuvor den Film “Das Schweigen” gesehen, das fällt mir gerade wieder ein. Eigentlich kommen ja alle Bilder, die man so macht, aus dem Unterbewusstsein und man weiß zunächst gar nicht genau, weshalb.

“Das Schweigen” von Ingmar Bergmann hat dich also in deiner Arbeit geprägt?

Als ich diesen Schwarzweißfilm gesehen habe in München mit etwa 20, kam ich gerade aus der Army, und der Film war ein Riesenthema in Deutschland. Da gibt es eine Szene mit Ingrid Thulin, in der recht voyeuristisch durch den Türspalt gefilmt wird. Viel später entstand dann ein Cover, für das ich auch eine Frau vor dem Badezimmerspiegel fotografierte, das aussah wie direkt von der Leinwand, aber der Bezug zu “Das Schweigen” wurde nie hergestellt. Wir haben dann ein Quote von Gertrude Stein verwendet: “The environment in which you live creates the art which you see and hear.” Und das ist ja auch wahr!

Wie beziehst du dieses Zitat auf deine Arbeit?

Nun, ich habe immer in Städten gelebt, ich mache ja keine Bilder am See! Ich bin doch nicht Gunter Sachs, der sich auf Felsen stellt! Nein, ich bin Interior, denn es ist ja auch viel privater, inside.

Das baut ja auch eine ganz andere Art von Verletzlichkeit und Intimität auf für deine Szenen.

Vielleicht ist es auch interessanter, was ich NICHT mache, als das was ich mache. Wann immer ich bei Models merkte, sie waren over-exposed, oder bereits Stars – now what the fuck am I gonna do with a star?! Das ist eine ganz andere Paparazzi-Mentalität, um Geld zu machen. Für mich war die Kamera immer nur ein Werkzeug, um mich auszudrücken. Dank der technischen Fortschritte konnte man plötzlich mit Schärfe am Horizont arbeiten, aber ich habe das Gegenteil gemacht, und versucht, mit Unschärfe im Hintergrund die Persönlichkeit hervorzuheben. Was ist das eigentlich für ein Mensch? Was weiß die Person NICHT über sich? Das wird dann eine Sache des Instinkts. The process of elimination.

War die technische Umsetzung auch eine Frage des Geldes?

Ja natürlich! Schwarzweiß zu fotografieren, war viel billiger. Bei professionellen Models musste man dann schon im Testshoot zehn Farbrollen durchschießen. Aber ich wollte auch nicht etwas Kommerzielles machen, das jeder macht. Und die Realität hat mich sowieso noch nie interessiert. Überhaupt keine Realität! Ich war schon immer ein Träumer. Ich wuchs quasi erst beim Vater auf, und war erst ab 13 für drei Jahre bei der Mutter. Auch wenn wir kein enges Verhältnis hatten, dachte man als Heranwachsender natürlich oft an die Mutter. Ich vermute, ich habe viele Bilder unterbewusst aus Situationen heraus gemacht, in denen meine Mutter war. Ihr Seelenleben in meinen Fotos.

Das ist ja auch eine Art von Bewältigung, also tiefenpsychologisch für deine Bildwelt sehr interessant.


Das habe ich auch festgestellt. Manche Leute gehen zum Psychater, und ich muss unbedingt dieses Bild machen! Weil ich ja fast ausschließlich sequenziell arbeite, kann man sich den Kontext herleiten. Da möchte ich nicht limitieren, eher aufreißen und anecken.


Man merkt es gut an den Details, die du in deine Bilder einbaust.


So kam ich auch zur Technik des Industriedrucks auf Alu von Thyssen-Krupp. Dieses Material braucht minimales, natürliches Licht und lebt von selbst. Daher entschied ich mich für “TinTones”, als ich einmal Trommler beobachtete, die außer Blech mit nichts arbeiteten. Genau wie ein Schriftsteller im besten Fall ausschließlich einen Bleistift braucht. Es fasziniert mich, wenn alles Technische eliminiert und ganz minimalistisch mit Licht und Farbe gearbeitet wird, ich beschäftigte mich also intensiv mit der Fotografie meiner Großeltern, die ausschließlich in Brauntönen gehalten war. Als ich begann, viele Schwarze zu fotografieren, gelangte ich automatisch zu einem Sepiaton, der die Hautfarbe bereits komplementiert. Dann begann ich,  mit Hand ganz abstrakt zu kolorieren.

Hat es lange gedauert bis du deine Technik gefunden hast?

Ich habe lange mit verschiedensten Materialien experimentiert, was natürlich erst mal schwer zu verkaufen war. Als ich 1980 in L.A. ankam, sagte ich sofort, dass ich ausschließlich mit Handkolorationen arbeite, und musste dann erst mal Sandwiches verkaufen, weil ich so verschuldet war, zum Glück hatte meine Frau einen guten Job. Ich druckte dann alles in sehr großen Formaten, und bekam über Hilary eine Ausstellung im China Club, die ich wegen des Blaustichs und der Teilung Deutschlands “Prussian Blue” nannte. Das war Underground, und erforderte natürlich Mut, Preußen gab es ja nicht mehr.


Durch diese Ausstellung kamst du in Kontakt mit Tom Waits?

Toms Frau Kathleen las davon, und er bot mir daraufhin die Arbeit für “Swordfishtrombones” an. Ich bin eher visuell geprägt, und musste mich erst mit der Musik befassen, ehe ich Bilder umsetzen konnte. Diese Reihenfolge finde ich künstlerisch sehr wichtig. Drei Monate lang haben wir uns kennengelernt, Tom war noch nicht wohlhabend und ziemlich am kämpfen zu der Zeit.

Das war ja eigentlich auch seit jeher seine Thematik, sich mit Personen zu befassen, die selber kämpfen und sich abmühen müssen.

Er war noch nicht berühmt, aber hatte schon Follower, solche Freaks, die auch Warhol umgaben. Aber das waren die wahren Freaks! Warhol hingegen hatte ja keine echten Menschen um sich in dem Sinne. Den hab ich auch jeden Tag gesehen, der sprach aber kaum. Waits war da viel verbaler als Lyriker. Wir haben nie über Politik gesprochen, nur über Filme und Kunst, über Berlin, Kurt Weill, und Brecht.

War die Inszenierung eurer Arbeit inspiriert von diesen Einflüssen?

Tom war fasziniert von Tod Brownings “Freaks”. Und interessanterweise hatte Angelo, der Kleinwüchsige aus den Bildern, sogar in dem Film mitgespielt. Aus dem Albumcover entstand dann das Musikvideo “In the Neighborhood”. Ich war verantwortlich für alles Visuelle, und der Oscar-prämierte Haskell Wexler stand hinter der Kamera, dem redete man aber nicht rein. Als das Video fertig wurde, war die Resonanz aber durchwachsen, ich brachte es zur Redaktion vom Stern, die gaben mir das wortlos wieder.

Kannst du dir vorstellen, woran das lag?


Ich denke wohl, dass es bestimmten Mentalitäten eine Zeit suggeriert, von der sie gar nichts mehr wissen wollen.
Aber diese Zeitlosigkeit ist ja der Punkt der Sache! Dass man trotz Widerstand immer noch Musik und Kunst machen kann.

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Zur Webseite von Michael A. Russ
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Eindrücke aus seiner Wohnung:

Still aus der Wohnung von Michael A. Russ (c) Sonja Steppan

Still aus der Wohnung von Michael A. Russ (c) Sonja Steppan

Still aus der Wohnung von Michael A. Russ (c) Sonja Steppan

Still aus der Wohnung von Michael A. Russ (c) Sonja Steppan

Still aus der Wohnung von Michael A. Russ (c) Sonja Steppan

Still aus der Wohnung von Michael A. Russ (c) Sonja Steppan

Still aus der Wohnung von Michael A. Russ (c) Sonja Steppan

Fotos: Sonja Steppan

There are 2 comments

  1. Karin Kern-Imam

    Tolles Interview, tolle Fotos! Lebendig und nah am Künstler, seiner Person und seiner Arbeit.Hier werden schlaglichtartig wichtige Etappen seiner künstlerischen Entwicklung beleuchtet, es werden die biographischen Hintergründe angesprochen und deren Einfluss auf die Arbeit des Künstlers verdeutlicht. Und das alles in einer Athmosphäre intensiven aber dennoch ungzwungenen Gesprächs. Chapeau! Ein wunderbares Interview, sollte es öfter geben.

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