3. Sommercampus der Künstlerstadt Kalbe

Aus dem Fenster des Regionalexpresses 17643 von Uelzen nach Hohenwulsch sehe ich weite Felder, Birkenwälder, Fleckvieh und immer wieder rote Ziegelsteinhäuser vorbeiziehen. Auf der Welt bin ich schon viel rumgekommen, nicht aber in Deutschland und als Münchnerin noch weniger im Deutschen Osten. Ich komme auf Gleis zwei an. Der kleine Weg neben den Gleisen führt direkt an eine Feldstraße, so ganz sicher bin ich mir nicht, ob ich hier richtig bin. Während ich in Richtung Straße gehe, biegt ein grüner Geländewagen um die Ecke und hält. Es ist der Mann meiner Künstlerstadt-Patin. Er braucht zwei Krücken zum Laufen, aber Autofahren geht noch gut. Er mag die Jagd, verraten mir Magazine und Utensilien auf dem Rücksitz, auf den ich meinen Koffer hochwuchte. Seinen 14-jährigen Rauhaardackel hat er zu Hause gelassen. Das finde ich schade, denn ich mag Rauhaardackel. Ich steige ins Auto ein und er ruft seine Frau an und berichtet, dass ich gut angekommen sei. Sie könne sich aber noch Zeit lassen, es gebe Baustellen. „Ach Gott“, höre ich meine Patin durchs Telefon sagen. „Gott? Der ist weit weg im Himmel“, antwortet er ihr und zwinkert mir zu. „Wenn du eine Kirche kaufen wolltest: Jemand anderes war da schon schneller“, sagt er, als wir an einer großen Backsteinkirche vorbeifahren. Ich frage, warum es hier Kirchen zu verkaufen gibt? „Die Gläubigen sind wohl ausgestorben.“ Ich mag seinen Humor.

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Kalbe blickt auf mehr als 1000 Jahre bewegte Geschichte zurück, hier standen unter anderem eine Burg, ein Kloster und im 2. Weltkrieg der größte Längswellensender der Welt: „Goliath“. Mit ihm konnten deutsche U-Boote in allen Teilen der Weltmeere erreicht werden. Nach dem Krieg diente das Areal den Alliierten kurzzeitig als Lager für bis zu 80000 Gefangene. Der Sender wurde demontiert und in die damalige Sowjetunion gebracht. Dort wo der „Goliath“ stand, sind inzwischen nur noch weite Felder und ein paar wenige Ruinen, die noch vom Krieg zeugen. Außerdem gibt es viel Leerstand – darunter nicht nur Kirchen, sondern auch viele Scheunen, Familienhäuser, ein Einkaufszentrum und ein großes Kulturhaus.

Ich bin hier, weil ich Stipendiatin des Sommercampus der Kulturinitative „Künstlerstadt Kalbe e.V.“ bin, die für ihr Engagement schon zahlreich ausgezeichnet wurde. Wir – Studierende aller Kunstrichtungen von Bildender Kunst, Musik, Literatur, Tanz, Theater zu Film – sind auch in einem zuvor leer stehenden Haus untergebracht, dass über die letzten Jahre von Mitgliedern des Vereins renoviert und ausgestattet wurde. Die Verhältnisse sind einfacher als ich mir es vorgestellt hatte und ich erwische mich bei meiner inneren Prinzessin auf der Erbse, denn das Erste, was ich – alleine in meinen Zimmer – denke, ist: Ich vermisse meine geräumige Wohnung, ich vermisse die Eames-Stühle, ich vermisse die Infrastruktur meines Home-Studios. Und ich habe Heimweh und hätte gerne meine Palme von zu Hause. Aber als ich eine Nacht darüber schlafe, schäme ich mich für meine Gedanken, denn ich merke schnell, wie sehr sich alle hier Mühe geben, wie viel Liebe und Idealismus in diesem Projekt steckt und was für spannende Künstler da sind. Drei Tage, wilde Brombeeren und eine Handvoll neuer Katzenfreunde später ist mir klar: Zwei Wochen Kalbe, das wird viel zu kurz sein.

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Am fünften Tag organisiert Nadja Wieser, die selbst szenische Texte schreibt, eine Lesung. Lisa Wiedemuth und ich lesen abwechselnd mit ihr eine Auswahl unserer Texte und Marius Moritz, Musikstipendiat, spielt drei Improvisationen am Klavier.

Veronika liest "Bambi Valencia"


An den Wochenenden sind unsere Ateliers für Publikum offen und wir erklären interessierten Besuchern, an was wir jeweils arbeiten. Ich zeige als erstes meine Leseecke, die ich neben einem Arbeitsplatz eingerichtet habe, weil ich endlich „Du musst dein Leben ändern“ von Peter Sloterdijk fertig lesen will – aber mir kommt Milan Kunderas „Abschiedsball“ die ersten Tage dazwischen. Dann habe ich neben meinem Schreibtisch die Erstfassung einer Kurzgeschichte aufgehängt, die ich im Laufe meiner Zeit hier bearbeite, um sie letztendlich für eine Lesung bei den Karlsruher Literaturtagen fertig zu stellen. Gut und schlecht zu gleich an den Atelierräumen: es gibt kein Internet. Somit bin ich die ersten Tage auch sehr nervös, aber finde dann durch zeichnen einen Weg, mich soweit zu entspannen, dass ich nicht alle fünf Minuten online gehen will, um Facebook oder Instagram oder was auch immer nachzuschauen. Als ich meinen Arbeitsrhythmus in Kalbe finde, ist es zwei Tage vor Abreise. So ganz verstehe ich nicht, wo die Zeit hin ist. Sie muss mit den täglichen Radtouren, Eiscafé besuchen und Abhängen mit den anderen Studierenden in einem schwarzen Loch verschwunden sein. Und sie steckt natürlich in meiner nächsten Geschichte…

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Der Sommercampus der Künstlerstadt Kalbe ist eine soziale Skulptur. Kunst findet in neu erschlossenen Räumen statt, die kulturelle Begegnungen möglich machen. Leer stehenden Häusern und Wohnungen wird wieder Leben eingehaucht. Kalbe wird als Ort gestaltet, verwandelt und neu gedeutet.

Vielen Dank für Fotos an: Christoph Pankowski und Haiwei Ye

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