Athen und die Documenta 14: Kunstschauen als Themenparks für Erwachsene

Text: Patrick Schneider / Bild: Pauline Fabry

Vom spirituellen Anflug auf eine Kunstausstellung in Athen im Frühling unter Berücksichtigung eines Ausblicks auf Kassel nebst zwei Exkursionen, darin nicht weniger als die Vermutung einer Tendenz zeitgenössischer Kunst.

Ich komme nicht herum, persönlich zu werden. Die Documenta 14 eröffnet Anfang April in Athen und nicht wie üblich in Kassel, wo sie im Turnus von fünf Jahren stattfindet. Dort ist sie später ab dem 10. Juni ebenfalls für 100 Tage zu sehen. Deswegen fliegen wir nach Griechenland und stellen uns das Motto der Documenta als Türinschrift vor, unter der wir am Gate hindurch gehen: „Von Athen lernen“. Wir sind die Fotografin Pauline Fabry und ich, der Urlaub vom Alltag machen will, was am ehesten mit Kunst gelingt. Sie kommt von ihrem Trip aus Hawaii, wo sie mystische Orte aufgesucht hat, um sich mit dem universellen, kosmischen Geist zu connecten.

Aus Pauline Fabrys Serie „In der Achse der Zeit revoltiert das Normativ“, entstanden in der Korikyischen Grotte

Bei einer Schau für zeitgenössische Kunst wie der Documenta 14, die ankündigt, in diversen Räumen über die Stadt Athen verteilt zu sein, hilft die eine Handreichung ungemein, Kunstschauen als Themenparks für Erwachsene zu verstehen und anzugehen. Konkret heißt das den eigenen Spieltrieb zu aktivieren, sich intellektuell zu öffnen und den Irritationen nicht entgegenstellen, aufs Lustprinzip zu setzen, ins Gespräch zu kommen und schließlich in den Flow zu geraten, der einen durch die Stadt trägt vom Airbnb-Apartment per GPS-Navigation in die Ausstellungen, ins Museum, Café, Club, Bar, Restaurant, Shopping-Zeile, antike Stätte, Ruinen, Raststätte, Autobahn, Souvlaki-Imbiss, Kiosk, Toilette und wieder Ausstellung.

Zuvor aber, in Athen angekommen, mieten wir uns für zwei Tage einen VW und fahren zur Ruine des Poseidontempels ans westliche Ende des Festlandes und drei Stunden Richtung Norden nach Delphi. Es scheint die Sonne und regnet im Wechsel, der die Berge erblühen lässt. Die Landschaft ist beeindruckend, mmh, schön wie aus der Zeit gefallen. Pauline findet an solchen magischen Orten ihre spirituelle Verbindung, sie erlebt einen Zugang zu Wesen und Ereignissen, die nicht jedem gegenwärtig sind. Ganz besonders bei den Ruinenanlagen, die eine Geschichte des Übernatürlichen haben, gerät sie in einen anderen Zustand. Ich suche an den Überresten nach dem historischen Geist und habe etwas Ruhe zum Symposium Lesen. Außerdem nehme ich mir vor, über die Documenta 14 so zu schreiben, dass sich die Reflexion unvoreingenommen mit der persönlichen Erfahrung vor Ort deckt. Ich will im Schreiben mein Denken und Erfahren nicht gegeneinander ausspielen, sondern sie sollen ineinander greifen, wie ich auch das Schreiben im Sitzen mit dem Unterwegs-Sein verbinde, indem das eine das andere ablöst, bis sich unsere Athener Tage am Ende zu einem Bild fügen. Dieses Bild soll alle Fassetten aufweisen, mutig, inspiriert vor nichts halt machend. Und zurück von unseren Ausflügen duftet Athen nach Frühling. Die Blüten der Orangenbäume hängen in der Luft. Nachts gehst du unter ihnen hinweg. Sie bilden ein Dach und stehen Spalier.

Von Athen lernen

Der künstlerische Leiter der Documenta 14 Adam Szymczyk hat sich für eine Doppelausstellung in Kassel und in Athen entschieden, um mit den Mitteln der Kunst eine Politik des Perspektivenwechsels, des Verständnisses und der Kooperation zu kreieren, die die nationalen Regierungen zunehmend unterließen. Die Wahl des zweiten Ausstellungsortes ist auf die griechische Hauptstadt gefallen, weil sich seit der Bankenkrise im deutschen Verhältnis zu Griechenland Vorurteile und eine neoliberale Realpolitik etabliert haben. So gesehen will das Motto „Von Athen lernen“ zuerst die deutsch-nationale Position provozieren. Konservativ ließe sich denn auch annehmen, im Kern beschäftige sich die von Adam Szymczyk ausgewählte Kunst mit Fragen kultureller Diversität und politischer Kritik. Ganz so ist es nicht. Szymczyk geht über das Identitäre hinaus. In der Ankündigung des Öffentlichen Programms heißt es, mit dem Ziel, „ein kooperatives künstlerisches und aktivistisches Projekt jenseits des Rahmens von Nationalstaaten und Unternehmen zu entwerfen“. Vor der Prämisse einer zeitgenössischen Kunst als realer Ort des Postidentitären stellt die Athener Schau, die wir sehen, deshalb die Frage: Wie ist die Bildung einer neuen politischen Gemeinschaft möglich? Spannend ist im Folgenden, welche pointierte Antwort gegeben wird. Diese Antwort darf als die Position der Documenta 14 verstanden werden, die aktuelle Tendenzen der zeitgenössischen Kunst widerspiegelt.

Die Antwort auf die Suchbewegung nach einer kommenden Gemeinschaft erhält man im Flow durch Ausstellungsorte und Performances, die sich deszentral über Athen verteilen. Deren Parallelität und die Gleichzeitigkeit der Ereignisse, wenn zum Beispiel zu Athener Eröffnung weißer Rauch aus der Kasseler Kunsthalle Fridericianium aufsteigt, erinnert Pauline an die Synchronizität von Trance-Erfahrungen. In denen ist man zugleich jetzt, gestern und morgen, ist hier und anderswo.

Das Konservatorium Odeion. Ein moderner Bau, langgezogen, marmorverkleidet. Da tappe ich in die interaktive Performance „Social Dissonance“ des baskischen Künstlers Mattin. Das Publikum wird für eine Stunde in einem geschlossenen Saal mit der Aufgabe konfrontiert, ein kollektives Subjekt zu kreieren. Auf uns gestellt geraten wir bald in Auseinandersetzung mit fünf Performern, die unsere Bemühungen unterstützen und sabotieren. Rasch haben wir uns im Kreis sitzend auf eine Diskussion zurückgezogen, die über die rationale Sprache nicht hinauskommt. Am Anspruch, ein Kollektiv zu bilden, scheitern wir im diskursiven Gespräch, das kein Ende kennt. Es hatte uns auch an Vertrauen gefehlt. Die Zeit war knapp. Doch die Frage, was Kit einer postidentitären Bindung sein könnte, bleibt. Was ist verbindlicher als die ästhetische Behauptung und die diskursive Struktur? Was haben Kooperationen wie ein kapitalistisches Unternehmen uns kritischen Akteuren voraus? Das finstere Auditorium im Untergeschoss des Konservatoriums bespielt der in Berlin lebende Nigerianer Emeka Obgoh mit der audiovisuellen Installation „The Way Earthly Things Are Going“. Auf einem meterlangen LED-Display laufen Börsenwerte in Echtzeit fort. Welche Unternehmen und Konzerne auch prosperieren oder wieder verschwinden, die fortlaufende Börsennotierung suggeriert die Unendlichkeit dieses materialistischen Kreislaufes. Kontrastierend erzählt der traditionelle, griechische Trauergesang, der sich über das Bild der Börsennotierung legt, vom Schmerz einer Mutter über die Abwesenheit ihres emigrierten Sohnes. Im Nebenraum dann Susan Hillers Sound-Collage „The Last Silent Movie“ mit Aufzeichnungen toter und aussterbender Sprachen – und damit von Sprachgemeinschaften. Welche Kraft also müsste die neue Gemeinschaft entfalten, um den destruktiven Entwicklungen zu trotzen?

Liebe allein? Auf dem Kotzia-Platz beim gemeinsamen Essen „Shamiyaana-Food For Thought: Thought For Change“, initiiert und bekocht vom iranischen Künstler Rasheed Araeendem, treffen wir auf ein Pärchen, das sich noch sucht. Er aus Marseille, ein hübscher Mann. Sie, jung und noch hübscher, aus Argentinien und auf dem Sprung nach Mexiko, um dort Französisch zu lernen. So schön sie anzuschauen ist, mit der Liebe ist es offensichtlich kompliziert. Wir suchen in ihr Freiheit, wo wir Besitzansprüche fürchten. Auch ist die Liebe auf der Documenta kein Thema.

Zeremonie, Ritual und magische Beschwörung des kollektiven Geistes

Weiter ins EMST, dem Athener Nationalmuseum für Zeitgenössische Kunst. Bevor man sich in der üblichen Überfülle von vier Stockwerken Kuration verliert, in der selbst Chris Dercon auf der Suche nach einem Video umherirrt, geht es am Eingang am besten rechter Hand zur Installation des jüngst verstorbenen Kanadiers Beau Dick. Seine Arbeit leitet die Ausstellung im EMST ein mit Masken der Kwakwaka’wkw, als müsste die zeitgenössische Kunst magische Hilfestellung bekommen. Wozu? Und das Performance-Programm, das besonders viel Aufmerksamkeit bekommen hat, entlehnt Elemente von Bräuchen und Riten oder gibt sich die Aura des Rituals. Die Installation von Beau Dick wird so zum Ort einer Zeremonie aus Lied und Mythos. Marta Minujin beschwört mit ihrer Potlatsch-Aktion „Payment Of Greek Debt To Germany With Olives And Art“ die Schuldentilgung, Cécilia Vicuna performt am Meer ein „Beach Ritual“. Diese Documenta beschwört einen Geist, der mehr als Performance-Kunst sein will. Immer waren solche Rituale auch konstitutiv für ein kollektives Bewusstsein. Sie handhabten einen magischen Geist. Der muss heute erst wieder initiiert werden. Dazu bräuchte es einen Sprung in den Glauben, der suspekt ist, sobald er die innere Erfahrung nach außen trägt. Im Diskurs der Kunst erscheint diese Veräußerung womöglich unverdächtig. Und hier in Athen gar notwendig.

Die Kunsthochschule ist der dritte zentrale Ausstellungsort. Sie liegt im Süden der Stadt in einer einstigen Industriebrache. Auch hier, es verwundert mich nicht mehr, wieder Todesbewusstsein und ewigen Kreislauf. Diesmal von Plastikmüll, der als archäologisches Zeugnis unserer Gegenwart von Bonila Ely unter dem Titel „Plastikus Progressus: Memento Mori“ mit Witz arrangiert ist. Der Tod und das Ewige sind inzwischen die Vorzeichen für das zentrale konstruktive Moment, das der Documenta die Gemeinschaft selbst ist. Drei Versuche der Vergemeinschaftung werden als Rauminstallationen präsentiert: „Score for a Twenty-Day Workshop“ von Anna Kai und Lawrence Halprin, eine Dokumentation des Kunstworkshops im Sommer 68 in San Fransisco. Kunst und New Age damals – und heute: von Ciudad Abierla „Amereida Phalene Latin South America“ über Gruppenübungen und die diesjährige karmisch-spirituelle Künstlerschulung „Experimental Education Protocol, Delphi“ von Angelo Plessas. So viel zu sehen… irgendwann ist die Luft raus.

Über den Spirit, der in der Luft liegt, tauschen Pauline und ich uns abendlich aus. Sie hat viel zu berichten, ist mit ihm vertraut (Stichwort HypnoHenKaiPan). Ich gerate wieder in Distanz. Der Flow ebbt etwas ab. Wir zwei treffen uns beim Positiven, Konstruktiven, Verbindenden, Emanzipatorischen. Dann erinnere ich mich daran, dass ich vor dem Abflug zuerst über Athen als politischen Raum schreiben wollte. Davon ist nun kaum etwas zu lesen. Die Stadt ist aberlinisch, hügelig, dicht, orangensonnig und frühlingsschwül. Die Manifestationen linker Gruppierungen vor Ort zu einer Documenta im politisch brisanten Athen sind ressentimentgeladen und zielen auf einen selbstherrlichen Kunsttourismus. Die meisten Athener trotzen der Krise mit einem gelassen Weiter-so. Hier wiegt es nicht schwer, dass die Kunst allerorts einen Geist zitiert, der über sie hinausgeht, bis er als spiritueller Geist die politischen Abgründe überfliegt. Die Aussicht auf ein kommendes Miteinander, das die tradierten Identifikationen überwindet und zugleich verbindlich ist, ist jedenfalls verlockend.

Nihilismus als ausgezeichneter Downer gegen die politische Ekstase

Doch was auch bleibt, ist die Skepsis. Auch gegenüber dieser Documenta, die mir große Lust bereitet. Denn erstens geht es um sehr viel. Die globalisierte Welt und ihre Konflikte beeindrucken durch ihre Abstraktion und Übergröße. Bei manchen Kunstwerken wünsche ich mir deshalb einen Humor, der mittels Satire die Dimension der Probleme so verkleinert, dass sie überwindbar werden. Dieses phantastische Potenzial des Humors hat die coole künstlerische Leitung nahezu vergessen. Im Ganzen geht es bierernst zu. Vielleicht weil sie korrekt sein will? Bereits von Athen lernen könnte diese Documenta, wenn sie sich am Klischee des lustigen Griechen ein Beispiel nähme. Zweitens läuft im Hinterkopf des deutschen Besuchers das Unbehagen gegenüber einer Gemeinschaft mit, die sich auf einem metaphysische Fundament bildet. Auf solchem Fundament bricht sich auch der ideologische Massenwahn bahn. Diese historische Erfahrung ist nun keine griechische Problematik und wird unter der hier skizzierten Perspektive zweitrangig. Es könnte aber sein, dass das Publikum in Kassel darauf übervorsichtig reagiert, wenn es seine nationale Brille aufbehält und die Documenta dort die gleiche Tendenz verfolgt. Denn in Deutschland gilt der Nihilismus als ausgezeichneter Downer gegen die politische Ekstase. Gleichwohl wird dieser Nihilismus von der Documenta als zweckrationale und kapitalistische Sinnlosigkeit verstanden, die für die globalen Verwerfungen mitverantwortlich gemacht wird. Wir können also gespannt sein, was von dieser künstlerischen Suche nach dem Geistigen in der Politik, die die Documenta 14 in Athen fokussiert hat, ab dem 10. Juni in Kassel noch zu sehen ist und ob dann Ablehnung oder Begeisterung überwiegt.

Nach unseren Athener Tagen geht es weiter. Pauline und mich zieht es an unterschiedliche Orte. Sie fährt nochmals nach Delphi, von dort weiter nach Meteora, in die Berge und Höhlen dort oben. Sie ist auf der Suche nach dem geeigneten Ort für eine Performance mit dem Blut ihrer Menstruation, die mit den Prozessen der Transformation und Neugeburt arbeitet. Letztlich wird sie fündig.

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Patrick Schneider lebt in Berlin und ist Begründer des performativen Kollektivs Die Happy Few, mit denen er zur Bundestagswahl 2017 das „Agitprop für alle!“ zeigt. Zuletzt ist von ihm „Kapitale Dramen“ erschienen. Die Fotografin Pauline Fabry ist Begründerin von HypnoHenKaiPan. Die Fotografien sind Teil ihrer Bildserie „In der Achse der Zeit revoltiert das Normativ“, die in der Korikyischen Grotte entstanden ist.

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