„Die Brüder Karamasow“ in der Volksbühne Berlin

Volksbuene_BerlinEine Frau bewegt sich mit zitternden Beinen und gekrümmten Rücken – schreiend und spuckend – auf der schwarzen Bühne. Sie lässt sich ins Wasser fallen, dabei öffnet sie ihren Mantel, dreht sich auf den Rücken und entblößt ihre Brust. Sie schreit weiter – aggressiv, intensiv, unverständlich – und räkelt sich im Wasser. Sie ist Jeanne Balibar und spielt Starez Sossima, einen ehrwürdigen Greis aus Fjodor Dostojewskijs letztem großen Roman „Die Brüder Karamasow“ (1880). Der russische Schriftsteller stellt darin die Ermittlung des Mordes an Fjodor Karamasow, Vater der drei Brüder Karamasow, dar. Es ist die Theaterinszenierung von Frank Castorf letzten Freitag, den 20. November in der Volksbühne Berlin. Es ist seine letzte Produktion, denn nach 25 Jahren verlässt Intendant Castorf 2017 die Volksbühne.

Die Romanvorlage von Castorfs Stück besteht aus 1200 Seiten. „Die Brüder Karamasow“ gilt als der komplexeste Roman von Dostojewskij, denn er ist gesellschaftskritisch, philosophisch und psychoanalytisch motiviert. Ein solches Werk in Theaterform zu transformieren ist schwierig. Frank Castorf, der bereits Werke, wie „Der Idiot“, „Die Dämonen“ und „Schuld und Sühne“ von Dostojewskij inszeniert hat, schafft daraus ein sechsstündiges Spektakel, das mitreißt – und überfordert.

Selfie der Autorin

Selfie der Autorin

Alles fängt recht harmlos an. Ich sitze im großen Saal im oberen hinteren Rang. Neben mir leuchtet eine riesige pinke Reklametafel, die den Raum in rotes Licht taucht. Vor der Bühne setzen sich die Zuschauer in schwarze gemütliche Sandsäcke. Das Bühnenbild besteht aus einem Pavillon, einem Holzhaus im traditionellen russischen Stil und einer Holzsauna. Das Licht geht aus. Die Schauspieler bewegen sich auf den Pavillon, der – was jetzt erst klar wird – in einem flachen Wasserbecken steht. Sie beginnen zu sprechen. Zunächst in normaler Stimmlage, dann lauter und hektischer. Einer der Charaktere läuft davon, ein anderer hinterher. Der Greis wird hinter die Bühne gezogen und der Wahnsinn fängt an.

Die Leinwand, die über der Bühne schwebt, leuchtet auf und das Gesicht des alten zitternden Greises erscheint. Nahaufnahme. Laute und aggressive Musik wird aufgedreht. Mehr Schauspieler kommen hinzu. Streitgespräche entwickeln sich. Es wird viel und laut geschrien. Es wird durch die verschachtelten Gänge hinter dem unsichtbaren Teil der Bühne rumgelaufen. Es wird in Räumen gespielt, die der Zuschauer nur durch die Kamera sieht. Die Handlung wird zu 90 Prozent auf der Leinwand gezeigt. Die verzerrten Gesichter mit großen Augen und spuckenden Mündern werden im Großformat projiziert. Wer ins Theater kommt, um Schauspieler auf der Bühne zu sehen, wird enttäuscht. Intellektuelles Theater? Wahnsinniges Theater? Intermediales Theater?

Die Hauptfiguren im Stück sind die drei Brüder Dmitrij (Marc Hosemann), Iwan (Alexander Scheer), Alexej (Daniel Zillmann) und ihr Vater Fjodor Karamasow (Hendrik Arnst). Sie befindet sich in ständiger Konfrontation, denn alle vertreten unterschiedliche Lebensvorstellungen. Langen philosophischen Monologen folgen intensive Streitgespräche. Zwischen Dmitrij und seinem Vater entsteht zudem ein Konflikt um die Femme Fatale Gruschenka (Kathrin Angerer). Soweit entspricht die Handlung dem Verlauf in Dostojewkijs Roman.

Castorf transformiert die Charaktere in die Moderne. Gruschenka mutiert von einem russischen Mädchen in blauem Kleid und roten Stiefelchen zu einem geldgeilen Biest in nassem T-Shirt, Pelzmantel und High Heels. Alexander Scheer erzählt als Iwan von amerikanischen Rockstars, während hinter ihm aufblasbare Sexpuppen an der Wand lehnen. Die Wortgefechte der Besetzung werden immer wieder durch extrem laute Musik unterbrochen.

Wer welche Rolle hat und worum es überhaupt geht, verstehe ich erst, als sich die Sprache ändert. Die anklagenden langen verschachtelten Sätze Dostojewskijs zu Beginn der Vorstellung werden zu der vulgären, aggressiven und einfachen Sprache des Schriftstellers DJ Stalingrad.

Der Name ist ein Pseudonym des russischen Aktivisten Piotr Silaev, der in seinem Buch „Exodus“ (2013) die gewaltbereite Jugend in der roten Untergrundszene beschreibt. Damit zieht Castorf Parallelen zwischen den Konflikten der russischen Gesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts und der Putin-Gesellschaft. Die Gemeinsamkeit liegt in der Wut und in der inneren Zerrissenheit. Die Besetzung schreit sich in Worten von DJ Stalingrad in Rage. Es wird viel gestritten. Das liegt an der Natur des Romans. Castorf überfordert den Zuschauer jedoch darüber hinaus mit wuchtiger Aggression in jedem gesprochenen Satz und in jeder Bewegung der Schauspieler. Das Level solcher Wut und Konfrontation sechs Stunden lang zu halten ist als schauspielerische Leistung beachtlich. Aus der Zuschauerperspektive aber teilweise anstrengend.

Als Einzige schafft es Sophie Rois, die den illegitimen Sohn von Fjodor Karamasow Pawel Smerdjakow spielt, zu mir durchzudringen. Keiner der anderen Rollen hinterlässt bei mir einen bleibenden Eindruck, da sie zu sehr attackieren und überrumpeln. Im Gegenteil dazu strahlt Pawel eine erschreckende Ruhe in seinem Monolog aus, was ihn bizarr, verrückt und gleichzeitig erfrischend in dieser hektischen Inszenierung macht – und das hervorragend gespielt.

Als Zuschauerin bin ich berauscht und fühle mich unwohl, fasziniert und angeekelt, überwältigt und will einfach nur raus. Alles gleichzeitig. Die Erfahrung des Theaters von Castorf ist intensiv und komplex. Sie bleibt nicht als reines Theater in Erinnerung, sondern als eine verrückte Party. Man war zwar dort, aber konnte irgendwie nicht mitfeiern.

Die weiteren Vorstellungen sind ausverkauft. Restkarten gibt es an der Abendkasse für 29.11, 18.12 und 20.12. 2015.

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