Anna Niestroj: „Bei mir herrscht das Chaosprinzip.“

„WER MACHT HAT RECHT“, steht in serifenlosen Versalien an den Schaufenstern mitten im Wedding, durch welche man Tausendsassa Anna Niestroj und Konsorten beim Werkeln beobachten kann.

Passender kann man gar nicht hereingelockt werden ins BLINKBLINK Studio mit dem „Annarchistischen Geschäftsmodell“, das die aufgeschlossene 28jährige seit gut zwei Jahren als offene Werkstatt, dynamischen Co-Working-Space und Pool für kreativ-innovative Eskapaden führt.

Der gebürtigen Polin, die sowohl in Hamburg, als auch in Zürich und Berlin studierte, merkt man rasch an, dass sie Impressionen und Materialien rund um den Globus gesammelt und hier vereint hat – zumal wir umgehend auf unsere diversen Reiseabenteuer durch den Nahen Osten zu sprechen kommen.

Anna, du kommst gerade aus Israel zurück – hast du vor Ort viel von den Demonstrationen der afrikanischen Asylbewerber mitbekommen?

Zunächst waren wir drei Tage in Jerusalem und am Toten Meer, dann erst in Tel Aviv – und haben eigentlich absichtlich keine Nachrichten geschaut. Erst nach der Ausreise kriegte ich von der Demo mit, bei der es um die Flüchtlingssituation ging. Das wirst du besser beurteilen können, aber mir schien die grundsätzliche Lage im Vergleich zum Libanon doch eher stabil.

Nun gut, Tel Aviv ist ja gewissermaßen eine Hochburg, was den westlich orientierten Lebensstil betrifft, auch gemessen am liberalen Beirut.

Stimmt, besonders für alleinreisende Frauen.

Hast du die Reise nach Tel Aviv denn zwecks kreativer Inspiration unternommen?

Naja, gewissermaßen ist ja alles jederzeit Input! Ich glaube, es war auch eine spirituelle Reise, neben der gemeinsam verbrachten Zeit mit Freunden. Überlegt habe ich das recht spontan – erst nachdem der Flug schon gebucht war, kam die Info über das Land… Ich halte mich zwar für eine politisch denkende Person, habe aber gemerkt, dass zu viel Aktivismus einen auch kaputt machen kann.

Ich finde es jedenfalls sehr erstaunlich, dass sie bei dir wegen deiner Reise nach Beirut keine Probleme gemacht haben! Das ist bei mir etwas anders ausgegangen

Mein alter Reisepass ist mir irgendwann gestohlen worden, deswegen war der Stempel in meinem neuen Pass nicht mehr drin – sonst wäre das sicher komplizierter geworden. Eine Mitreisende mit arabischen Wurzeln, wurde jedoch eineinhalb Stunden nach ihren Vorfahren ausgefragt. Bei der Rückreise sind wir alle sechs mit einer wahnsinnigen Akribie gefilzt worden.

Damals war mein steinalter Walkman im Handgepäck, weil mir ein Freund Musikkassetten aufgenommen hatte. Das israelische Sicherheitspersonal wusste damit nichts anzufangen, also haben sie ihn kurzerhand mit dem Schraubenzieher komplett zerlegt.

Mit meinen vollgeschossenen Filmrollen konnten sie auch nicht umgehen. Ich fotografiere immer, egal wo ich bin, früher eher digital, aber mittlerweile vor allem analog.

Gibt es hier im Studio eine Dunkelkammer, in der du selbst entwickeln kannst?

Noch nicht! Die Ausrüstung wäre da, und der Raum ist auch komplett unterkellert, steht aber bisher leer.

Erzähl mal, womit ihr generell ausgestattet seid!

Also abgesehen von den Arbeitsplätzen für eigene Computer stehen hinten zwei Risographen in A3 und A4, Stapelschneider, Klammermaschine, was man in einer Papierwerkstatt eben so braucht. Seit 2 Jahren sind wir nun hier; zu renovieren begonnen haben wir im Dezember 2011.

Wie muss man sich bei so einer Gründung denn die organisatorische Reihenfolge vorstellen – kommt da erst der Business Plan oder das Mietobjekt oder die Bildung eines Kollektivs?

Bei mir herrscht von Anfang an das Chaosprinzip. Ich arbeite schon frei, seit ich 20 bin, egal ob Grafik- oder Photojobs, habe dann in Hamburg mein Studium abgeschlossen, und um der Festanstellung zu entgehen, in Berlin noch weiterstudiert. Nebenbei habe ich hier intensiv in die Start-Up-Szene hineingefühlt und auch als Grafikerin gearbeitet. Meine Bachelor- und Masterarbeit drehen sich um Social Media-Phänomene, das baut also alles aufeinander auf. Daher war immer klar für mich, dass ich selbstständig arbeiten möchte, es stellte sich nur die Frage nach der Umsetzung. Nachdem ich vier Jahre lang von zuhause gearbeitet hatte, wollte ich das nicht mehr, aber in einer Agentur wäre es auch zu einer Pseudo-Festanstellung gekommen. Zunächst brauchte ich einfach Platz zum arbeiten – und habe diesen Laden im Vorbeigehen entdeckt. Es wurde speziell jemand wie ich mit einer bekloppten Idee gesucht, deswegen ging das dann ganz unkompliziert. Nach anfänglichen Problemen kann ich mittlerweile sagen, dass alles, was hier vor sich geht, quasi auf meinem Mist gewachsen ist.

Es muss ein tolles Gefühl sein, auf diese Entwicklung zurückzublicken! Was ist denn konkret im vergangenen Jahr losgewesen?

An Workshops und Veranstaltungen ist ziemlich viel passiert. Das Wedding Kulturfestival war ein totaler Erfolg, bei dem wir einen Beautysalon imitiert haben – man konnte sich die Haare schneiden, Nägel lackieren oder tätowieren lassen. Macho and her Gun aus der Schweiz hat gestochen, am Tag darauf gab es einen DIY-Tattoo Workshop mit der Schlangebande. Solche Tage bereiten mit Kommunikation, Einladungen, Flyern und so weiter natürlich einen riesengroßen Aufwand im Vorfeld – aber es waren dann so unglaublich viele Leute da! Die Stimmung war super, es hat sich wirklich gelohnt – auch für das Ansehen in der Straße.

Wie muss ich mit die Start-Up-Szene im Wedding denn generell vorstellen?

Äh, gar nicht?!

Ist das dann zu deinem Vor- oder Nachteil?

Vermutlich neutral – viele kommen hauptsächlich wegen der Risographie und sind dann oft zum ersten Mal im Wedding. Sonst gibt es noch das Stattbad, die Panke und eine kleine Siebdruckwerkstatt hat kürzlich aufgemacht. Es passiert zwar total viel, aber eben unterschwellig. Weil ich zur Straße hin arbeite, bin ich eigentlich die Einzige, die sich der Nachbarschaft komplett aussetzt. Im Winter ist das vollkommen okay, aber im Sommer hängen hier viele Sinti-Roma-Nachbarn fest, die den ganzen Tag Nüsse essen, Schnaps trinken und dich mit ins Casino nehmen wollen. Mit der Nachbarschaft bin ich mittlerweile abgehärtet – bis jetzt habe ich im Hinterhaus gewohnt, weil es hier so viel zu tun gab. Nun ziehe ich wieder zurück nach Moabit.

Das ist eine fantastische Sache, irgendwann nicht mehr gezwungen zu sein, von daheim aus zu arbeiten, und sich einen externen Arbeitsplatz zu „gönnen“. Nicht zwangsläufig wegen klassischer Bürozeiten, sondern vor allem dem persönlichen Abstand, bei dem das Zuhause tatsächlich zur „Feierabend-Zone“ wird.

Im Moment ist das sowieso mein größtes Thema: „Wie teile ich meinen Tag ein?“

Vermutlich ist das eh die größte Herausforderung als junger Kreativschaffender – sich nicht selbst unter Druck zu setzen, und zu wissen, was man an einem Tag stemmen kann.

Und natürlich auch, wie man effizient arbeitet – ich habe oft das Gefühl, unstrukturiert zu sein, und viel Zeit zu verplempern, weil ich keine großen Pläne mache. Das Problem ist auch das Aufstehen – du kannst zwar lange, lange wach sein und bis 5 Uhr morgens durcharbeiten, aber wenn dich dann mal ein Kunde um 8 Uhr anrufen möchte, solltest du natürlich nicht den ganzen Vormittag durchschlafen. Drum bin ich gerade dabei, mir einen Masterplan zu machen, wie ich meine tägliche Routine gestalte. Es zehrt natürlich schon viel Energie, wenn die gesamte Arbeit nur von mir abhängt – und es wird sich zeigen, wie und ob das hier alles weitergeht.

 Wo könntest du dir dich alternativ vorstellen?

Überall! Ich würde auch nach Tel Aviv gehen, oder Istanbul… Eine andere Option wäre dann zum Beispiel eine Studio-Tauschbörse, meinetwegen vier Wochen in ein Atelier nach Spanien zu wechseln und dafür hier den Raum zur Verfügung zu stellen. Da ist es natürlich ein Unterschied, nur einen Co-Working-Space mit Schreibtisch zu haben, oder eben wie hier genug Platz für Geräte und Ausstellungen. Jedenfalls hoffe ich, noch ein Jahr hier zu sein, in dem es mit Workshops, meiner Arbeit und der Kooperation in der Schweiz weitergeht. Was danach kommt – keine Ahnung!

Diese Freiheit macht es doch schön dynamisch – noch für ein Jahr zu planen, und sich dann alles offenzuhalten.

Das einzige was mich stresst, ist, dass ich hier mittlerweile so viel Zeug herumstehen habe. Wie soll ich diesen Laden bloß je wieder leer räumen? Irgendwann hänge ich dann nur einen Zettel an die Tür: „Heute alles zum mitnehmen“.

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Anna (c) Sonja Steppan

Fotos: © Sonja Steppan

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