Berlinale 2015: Von Husten und Historikerinnen

Ich liebe die Selbstständigkeit. Da hat man plötzlich die Chance, 14 Tage als VJ-Coach für Jugendliche rundum und auf der Berlinale zu verbringen. Was wir so treiben, seht und lest ihr auf fluter.de.

Zuvor hatte ich keine Idee davon, was das größte Publikumsfestival der Welt ausmacht. Ist die Welle an Hustern, die vor Filmen durch den Raum geht, so eine Art Helga-Ritual oder dem kalten Winter geschuldet?

Wie die Stadt lebt, spüre ich bei jeder morgendlichen Busfahrt. Dichtgedrängt fahre ich mit vielen anderen Berlinale-Begeisterten im M41 zum Potsdamer Platz und brauche immer länger, als mir der Plan sagt, weil die Türen aufgrund der vielen Menschen nicht zugehen.

Doch dann komme ich mit einer russischen Filmhistorikerin ins Gespräch, mit der ich mir einen Sitz teile. Sie arbeitet in einem Filmarchiv, und guckt jetzt aber zehn Tage lang nur Filme. Am meisten freut sie sich auf „Taxi“ des iranischen Regisseurs Jafar Panahi. Da ist sie nicht die Einzige, der Film ist viel im Gespräch. Schließlich musste Panahi seinen Film auch nach Berlin schmuggeln.

Abseits der großen Headliner-Filme finden sich noch viel mehr Unbekannte, die Deutschland im Kino nie zu Gesicht bekommen wird, weil sie zu kantig oder künstlerisch sind. Etwa „Flocken“, mein bisheriger Favorit, aus der Sektion Generation, in der ich berufsbedingt unterwegs bin. Der Film von der schwedischen Regisseurin Beata Gardeler – der Film rüttelt mich ganz schön durch und produziert viele Fragen im Kopf. Die 14-jährige Jennifer behauptet, von ihrem Mitschüler Alex vergewaltigt worden zu sein. Bis zum Ende hält sich die Spannung, ob sie recht hat. Ein sehr zeitgenössischer Film über gesellschaftliche Mitläuferschaft mit grandios gezeichneten Charakteren – etwa die Eltern, die auf ihre Kids subtil immensen Einfluss ausüben.

Film Flocken

Still aus dem Film „Flocken“, Foto: Dan Jåma


Die Berlinale ist größer und weitläufiger, als ich mir vorgestellt habe. Das glamouröse Staraufgebot erscheint, wenn man nicht gezielt danach sucht, gar nicht so präsent. Während ich mich noch orientiere, habe ich schon viel Promi-Gehabe auf dem roten Teppich und Aftershow-Partys verpasst. Aber während der Berlinale ist fast ganz Berlin mit rotem Teppich ausgelegt. An Partys mangelt es der Stadt sowieso nicht, mein Schlafmangel ist also gesichert. Die Augenringe kann ich mir am Potsdamer Platz in einem Stelzenhaus kostenlos wegschminken lassen.

Für die abseitigeren Filme kommt man auch spontan an Tickets, und muss nicht, wie viele Menschen es tun, nachts mit Schlafsäcken vor den Ticketbüros kampieren. Im Haus der Kulturen der Welt kann man für 2,50 Euro Filme der Sektion Generation im Kino sehen.

Was bleibt nach sieben Tagen? Viel Reizüberflutung: Die riesige Filmauswahl macht mich ganz gierig, am liebsten möchte ich sie alle sehen. Doch selbst mit einer Akkreditierung wird mir zu vielen Filmen der Eintritt verwehrt. Die diffuse Ticketvergabe habe ich bis jetzt noch nicht ganz durchschaut. Sie findet etwa im 5. Stock eines schnieken Business-Gebäudes am Potsdamer Platz statt. Im Aufzug freut sich ein Mann über seinen Berlinale-Goodiebag. „Nur 5 Minuten Wartezeit! Das schafft nur die Berlinale.“

Mich überrascht, wie beliebt Kurzfilme sind. Die Programme sind meist weit im Voraus ausgebucht. Hier ist mein bisheriger Spitzenreiter„Das Gesicht der Ukraine“ von der Australierin Kitty Green, die auch „Ukraine is not a brothel“ gemacht hat. Ansonsten empfehle ich „Driftwood Dustmines“ von Malina Maria Mackiewicz und „The Old Man and The Bird“ von Dennis Stein-Schomburg.

Faces Of Ukraine

Still aus dem Film “Das Gesicht der Ukraine”


Ich gucke auch so manchen Film, der im normalen Kino nicht meine erste Wahl wäre, etwa den australischen Kinderfilm „Paper Planes“. Darin erkennt ein kleiner australischer Junge sein Talent fürs Papierfliegen. Doch sein eigener Vater kann sich nicht mit ihm freuen, weil er der vor kurzem verstorbenen Mutter nachtrauert. Ich lache viel, und bin gerührt, auch wenn die Musik etwas zu kitschig geraten ist.

Enttäuscht verlasse ich das Kino nach „Corbo“. Der kanadische Film handelt von der Front für die Befreiung Québecs in den Sechziger Jahren. Zugegebenermaßen besticht der Film mit inszenierten, durchkomponierten Kameraeinstellungen. Doch ich kann mich nicht in den Hauptdarsteller Corbo hineinfühlen. Noch mehr stört mich die akustische Gestaltung des Films – ein dumpfes Dauerdröhnen killt jeden Spannungsaufbau.

Spaß macht es natürlich, bereits morgens ins Kino zu gehen. Ich könnte mich daran gewöhnen. Mit Hörnchen betrete ich den Zoopalast. In „Golden Kingdom“, einem dokumentarischen Spielfilm, geht es um das Klosterleben junger Mönchsanwärter in den burmesischen Bergen.
Golden Kingdom

Still aus dem Film „Golden Kingdom“


Der Film von Regisseur Brian Perkins liefert intensive Leinwandmomente, nimmt einen in fremden Klosterwelt und gespenstische Dschungel mit und ist damit als Erstlingswerk nominiert. Nach dem Film laufen zwei Novizen in Sandalen und Kutten über den roten Teppich, und blinzeln vor Blitzlichtgewitter. Für Fragen sind sie viel zu nervös.

Solche Begegnungen schafft auch nur die Berlinale.

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