Henning Lahmann: „Pop-Musik ist alles, was Adorno hassen würde.“

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Foto: Natalie Mayroth

Ein mit Stickern beklebter Laptop, die Zeitschrift n+1 und ein großes, rotes Buch mit dem Aufdruck „Die Tocotronic Chroniken.“ Das alles findet sich auf dem Schreibtisch von Henning Lahmann (34), Herausgeber des Blogs No Fear of Pop (NFOP). Im vergangenem Jahr hat ihn mir ein Kollege von der Spex im Friedrichshainer Club Antje Öklesund vorgestellt. Henning sammelt auf seinem Blog Notizen zur Musik der Zukunft. Mittlerweile hat er dafür ein internationales Team von Schreibern aus Dublin, London, New York und Los Angeles – und ein großes Netzwerk innerhalb der Musikszene. Nebenbei macht er Mixtapes mit Pop-Musik und ist alle zwei Wochen im Berlin Community Radio zu hören.

Ich treffe Henning zum Frühstücken im Pêle-Mêle in Neukölln. Vor zwei Wochen hat er seine Promotionsarbeit abgeben und ist schon wieder beschäftigt. Diesmal mit dem fünfjährigen Jubiläum des Blogs. Eine Party steht an, die organisiert werden muss. Trotzdem findet sich zwischen mediterranem Frühstücksteller und Hummus-Bagel Zeit für ein Gespräch.

Henning, du bist als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei iRights, als Journalist und Blogger tätig. Trennst du Arbeit und Hobby?
Das Bloggen ist in den letzten Jahren wieder mehr ein Hobby geworden, weil mir die Zeit dazu fehlt. Aber das Blog No Fear of Pop ist mir zu wichtig, als es nur als Hobby zu sehen. Es steckt zu viel Zeit, Arbeit und Geld dahinter. Bei iRights schreibe ich über Internet-Themen, das steht im Vordergrund. Hier ist meine Erfahrung als Online-Journalist nützlich. Die Abgrenzung zwischen Journalist und Blogger finde ich aber künstlich.

Auf No Fear of Pop dreht sich alles um „Pop-Musik“. Wie definierst du den Begriff?
Pop-Musik ist alles, was Adorno hassen würde. Das ist die kürzeste Definition, die ich dir geben kann. Keine klassische Musik, kein Jazz, obwohl wir auch schon Grenzformen dazu auf dem Blog hatten. Ob Nils Frahm jetzt modere Klassik oder Pop ist, darüber kann man sich sicherlich unterhalten. Pop ist im weitesten Sinne populäre Musik. Das, was wir in Deutschland als Unterhaltungsmusik bezeichnen.

Warum stehst du so auf Unterhaltungsmusik?
Ich finde sie wichtig, so wie jede andere kulturelle Ausdrucksform des 21. Jahrhunderts – genauso wie ich Mode und bestimmte Aspekte von Massensport wie Fußball wichtig finde. Popmusik sagt mehr über uns aus als Opernmusik. Sie zeigt, wie wir leben und hat ihre Berechtigung als Selbstvergewisserungsform unserer Kultur.

Ich finde deine Sets nicht so poppig. Ich höre Dubstep, Progressives und Tracks, die zumindest nicht in der BRD dem unterhaltenden Mainstream zuzurechnen sind.
„No Fear of Pop“ ist Ironie. Den Namen missverstehen viele, aber eigentlich ist er ein Frontalangriff auf den deutschen Subkultur-Hipster. Pop hat in Deutschland bei Leuten, die sich musikalisch als „Auskenner“ fühlen, eine wahnsinnig negative Konnotation. Zu sagen, dass alles an Musik Pop ist: von dem Megadeath-Album zu Dubstep ist Provokation. Daher kommt der Name eigentlich. Wer einmal auf dem Blog war, weiß, dass unsere Definition von Pop nicht Mainstream ist.

Das erinnert mich an Mediengruppe Telekommander, die in einem Song von 2004 fordern, „denn ich will Pop, Pop, Pop“ – sogar bis zum Erbrechen.
In Deutschland funktioniert die Provokation noch ziemlich gut. Du kannst einen Technojünger im Berghain immer noch damit nerven, wenn du ihm sagst: Das ist doch alles Pop hier.

Was macht der Technojünger dann?
Er fühlt sich in seiner Ehre verletzt, weil er seine Musik nicht mehr als Abgrenzungskriterium nutzen kann. Und seine Autorität unterminiert.

Das macht dir Spaß?
Ja, schon (lacht).

Spex als „Magazin für Popkultur“ oder „Pop. Kultur und Kritik“ von Transcript spielen auch mit diesem Begriff. Gesellst du dich damit in eine Reihe ein?  
In gewisser Weise schon. Die Spex macht das auf eine ähnliche Weise, indem sie sagt, alles, was wir hier besprechen ist Pop-Kultur. Gerade im linken Spektrum werden Begriff wie „Alternative“ oder „Indie“, was meiner Meinung nach nicht als abgrenzbare musikalische Form existiert, benutzt, um sich zu distanzieren. Wenn man es schafft, diesen Menschen das wegzunehmen, was wäre dann für das Gesamtwohl der Menschheit zuträglich?

Warum gibt es kein „Alternative“ oder „Indie“?
Das ist alles Pop-Musik. Die schlaueren Leute haben es verstanden. Tocotronic würden niemals behaupten, dass sie keine Pop-Musik machen.

Tocotronic ist auch Pop.
Ja, aber Leute, die das hören, würden das nicht unbedingt unterschreiben.

Schwingt bei Pop nicht immer diese furchtbar fröhliche Komponente mit?
Das finde ich nicht, es hat nichts mit Fröhlichkeit zu tun. Ich glaube nicht, dass diese Beschreibung auf den Begriff zutrifft.

Man kann dich auch auf Englisch im Web-Radio hören.
Als sich das Berlin Community Radio gegründet hat, wurden Tonje und ich angefragt. Es gab schon ein paar Sendungen mit live DJ-Sets. Wir – als NFOP – spielen andere Musik und reden. Ich hatte nicht gedacht, dass ich es so lustig finde, im Radio zu sprechen.

Und der übermäßige Musikkonsum hat dich dazu gebracht aufzulegen?
Ich spiele die Stücke, über die ich schreibe oder schreiben würde. Das geht Hand in Hand. Ich habe mich nie aufgedrängt, wurde öfters von Veranstaltern gefragt, ob ich vor oder nach Shows auflege. Auch Freunde kamen auf mich zu. Ich habe zu viel interessanter Musik Zugang und kann sie zu Mixtapes zusammenmischen.

Du hast deine Promotionsarbeit abgegeben, bist ausgebildeter Jurist und schreibst über Musik – wo siehst du dich?
Ich bin kein Fan von Definitionen. Ich habe mich nie auf etwas festlegen lassen. Mir wäre das Leben langweilig nur Jurist oder nur Blogger zu sein. Es ist alles ein Schreibprozess, der Kreativität bedarf – nur sind die Themen unterschiedlich. Ich finde es wichtig, politisch über Popmusik zu schreiben.

Wie schreibst du politisch über Musik?
 Nicht jeder Song ist ein politisches Statement, aber kein Song wäre ohne die dahinter liegenden gesellschaftlich-politischen Konstellationen so geworden, wie er ist. Es spielen viele Faktoren hinein, die dem Künstler selbst nicht immer bewusst sind. Wenn nostalgische Musik plötzlich populär ist, dann hat das vielleicht mit dem Zustand unserer Wirtschaft und den Zukunftschancen der jüngeren Generationen zu tun. Das offenzulegen, darum sollte es beim Schreiben über Musik gehen – nicht nur, aber auch.

Du sagst Musik-Blogs sind tot. Warum hast du dann einen?
Weil es wunderbar ist, in einem untoten Zustand weiterzumachen. Die Form des Musikbloggens in der „Post-Myspace-Zeit“. Dass man tatsächlich Bands entdeckt hat, und sie in bestimmten Kreisen bekannt machen konnte, das funktioniert nicht mehr – das war vor drei Jahren.

Woran liegt das? Haben Online-Magazine heute die Oberhand?
Durch Social Media und vor allem durch Soundcloud hat sich viel verändert. Musik wird nicht mehr über Blogs gefunden, sondern man folgt bestimmten Personen und Künstlern direkt auf Soundcloud oder hört sich die Musik, die im Facebook-Feed auftaucht an. Die Filterfunktion von Blogs hat abgenommen und auf der anderen Seite hat sich die Amateur-Musikszene professionalisiert. Viele noch recht unbekannte Bands haben schon einen PR-Berater. Das genuine Entdecken passiert kaum noch. Insgesamt finde ich die Entwicklung aber gut, es ist entspannender.

Die Filterfunktion von Blogs mag obsolet geworden sein. Aber sind es die Personen, die dahinter stehen auch?
Wir brauchen alle Filter, der Informationsmüll ist zu groß. Jeder Facebook-Feed ist ein Filter, aber man braucht Blogs nicht mehr in dieser Funktion. Vor vier bis sechs Jahren waren es eben noch Blogs.

Liest du noch Musikblog oder wer filtert jetzt für dich?
Sehr viel neue Musik höre ich über Veröffentlichung von Labels, deren Stil ich vertraue. In den letzten Jahren sind Kuratorenlabels größer geworden wie Triangle oder 1080p. Dahinter steht oft nur eine Person, ein Ex-Blogger, der einen gewissen Stil und Abenteuerlustigkeit pflegt und dadurch wieder zum Filter wird.

Wird man dann nicht zu sehr von einem Label beeinflusst?
Du wirst immer von etwas beeinflusst. Wir sind sowie so nicht objektiv und verpassen jeden Tag viele spannende Dinge. Wir verpassen auch jeden Tag wichtige Weltnachrichten, weil die Tageszeitungen entscheiden nicht darüber zu berichten, was gestern in Papua-Neuguinea passiert ist. Genauso ist es mit der Musik. Weil jemand entschieden hat, nicht darüber zu schreiben, erfahren wir nicht davon, aber das ist nicht neu.

Jetzt schaust du vermehrt auf Kuratorenlabels, bist du früher mehr auf Konzerten gewesen?
Ich habe schon immer eher im Internet gesucht. Die Bands, die in Berlin auftreten und interessant sind, kennt man meistens schon aus dem Netz. Ich habe 1998 die Vorgruppe der Red Hot Chili Peppers „entdeckt“: Muse. Aber wenn eine Band schon bei solch einer Gelegenheit auf einem Venue spielt, dann wurde sie auch schon entdeckt. (Ich finde Muse heute übrigens scheiße.) Jemand hat sie gebucht. Entdecken ist für mich, einen Künstler ausfindig zu machen, der drei Tracks auf Youtube oder Soundcloud hat. Dummy hat vor ein paar Jahren zum Beispiel Evian Christ auf Youtube entdeckt. Einen Lehrer in Mittelengland, der davor noch kein Konzert gegeben hatte.

Bands findest du über das Internet, du schreibst über Netzthemen berätst dazu. Wie kann man sich deinen Medienkonsum vorstellen?
Ich konsumiere die ganze Zeit Medien. Aber für mich sind diese Sphären virtuelle Welt und richtige Welt nicht getrennt. Ich gehöre zu den Menschen, die dreimal am Tag einen RSS-Reader nutzen.

Du hast vor fünf Jahren mit dem Bloggen begonnen, wie kam es dazu?
Ich wollte schon immer über Musik schreiben. Blogs wie Gorilla vs. Bear oder Transparent, die 2008, 2009 groß waren, haben mich inspiriert. Als ich nach Berlin gezogen bin und nicht so richtig wusste, was ich mit mir anfangen sollte, kam NFOP als Idee, die ich innerhalb von einer halben Stunde auf Blogspot durchgezogen habe.

No Fear of Pop ist nicht nur englischsprachig, sondern auch international bekannt – liegt das an deinem Berliner Netzwerk?
Eigentlich war es anders herum. Das Berliner Netzwerk ist dadurch entstanden, dass der Blog in den USA und in England bekannt ist. Circa 60-70 Prozent unserer Leser sind aus den Staaten. Seit unserer Gründung sind wir in den USA und in England bekannter als in Deutschland.

Wer steht hinter No Fear of Pop?  
In den fünf Jahren waren das vor allem Tonje Thilesen, eine Fotografin aus Oslo, und ich. Ab 2012 wurden es dann immer mehr Autoren, von denen viele in den USA, England, aber auch in Berlin leben.

Habt ihr ein Refinanzierungsmodel?
Wir verdienen mit der Website kein Geld. NFOP soll keine kuratierte Werbeplattform sein. Ich habe nichts gegen Werbung, aber sie muss passen und gekennzeichnet sein. Was wir nicht machen, sind Advertorials. Es gibt Branchen, in denen das besser als in der Musik funktioniert, wie etwas in der Mode oder bei Veranstaltungen. Ein schönes Kleid kann man sich nicht einfach aus dem Netz herunterladen so wie eine MP3.

Das stimmt, aber Musik und Mode verbinden doch einen gewissen Lifestyle.
Das ist nicht der kommerzielle Aspekt. Die Krise in der Musikindustrie wirkt sich auf die Medien, die über Musik schreiben, unmittelbar aus. Das wird sich nicht mehr ändern, weil du mit unkörperlichen Dingen handelst.

Ihr feiert den fünften Geburtstag. Bist du schon aufgeregt?
Ja. Die Party ist wichtig für uns. Was wir vor allem brauchten, war ein neuer Impuls. Bloggen ist schwieriger als vor fünf Jahren. Wir haben wenig Zeit dafür. Die Feier dient auch dazu, sich zu vergewissern, warum wir das machen. Und fünf Jahre sind für einen Musikblog eine relativ lange Zeit. Die Party soll das widerspiegeln, was wir erreichen wollen: Keine Abgrenzung zwischen irgendwelchen Genres, sondern Leuten zeigen, was musikalisch möglich ist.

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