Venedig Biennale 2015

Zwei Kiefern, mitsamt ihren Wurzeln und ihrem heimischen Erdblock stehen vor dem französischen Pavillon im Giardini der Venedig Biennale mit dem Thema „All the world´s futures“. Ich finde sie sehen schön aus, aber auch traurig. Ich nähere mich einer von beiden, stehe ganz nah, um sie genau zu betrachten und ich überlege, wieso sie am Stamm verkabelt ist – da bekomme ich das Gefühl, dass sie mir ausweicht. Habe ich einen Hitzeschlag? Schließlich ist es mit über 30 Grad im Schatten kurz nach Mittag kein Spaß, sondern harte Arbeit, von einem Pavillon zum Anderen zu laufen. Aber während ich zwei Sätze nachdenke, ist die Kiefer einen halben Meter von mir weggerückt. Ich muss lachen. Da hat sie mich bzw. hat mich der Komponist und Künstler Céleste Boursier-Mougenot überrascht, denn damit habe ich ganz und gar nicht gerechnet, denn die komplizierte Mechanik, die in den Bäumen steckt, ist geschickt versteckt.

La revolution_CelesteBoursierMougenot

Ich laufe die Treppen hoch in das Gebäude, in der eine dritte Kiefer in der Empfangshalle lebt. Die Räume sind angenehm kühl und erfüllt von sphärischen Tönen – die von den Bewegungen und dem elektrischen Feld der Bäume abgenommen und wiedergegeben werden. An die Empfangshalle grenzen jeweils an alle Seiten Räume, die mit Stufen zum Verweilen ausgestattet sind. Ich nehme links vom Eingang Platz und die Situation verfehlt ihre im erklärenden Faltblatt angekündigte Wirkung nicht: Innerhalb von wenigen Minuten fühle ich mich in eine fernöstliche Meditationsschleife transportiert und ich verbringe fast eine Stunde mit „révolutions“ und bin wirklich traurig – wie nach einem guten Buch – als ich mich losreiße, um weiter zu schauen.

Der deutsche Pavillon gestaltet von Olaf Nicolai, Tobias Zielony, Jasmina Metwaly, Philip Rizk und Hito Steyerl ist mir bei der Hitze von der Aufmachung her auf den ersten Blick zu nüchtern und aufgesetzt intellektuell. In dem kleinen Raum, in dem der Film von Hito Steyler gezeigt wird, halte ich es leider auch keine zwei Minuten aus, weil es nach abdampfendem Plastik stinkt, aber ich nehme die kleine Zeitung mit Geschichten und Interviews von und mit den Flüchtlingen mit, die in Tobias Zielonys Arbeit „The Citizen“ gezeigt werden. Diese Zeitung packe ich wenig später im polnischen Pavillon wieder aus, weil ich dort eine Steckdose finde, um mein iPhone zu laden. Ich setzte mich also dort hin und lese die Erfahrungsberichte von Flüchtlingen aus Eritrea, dem Sudan, Ghana und anderen Ländern, während der Soundtrack des Films „Halka/Haiti 18°48’05”N 72°23’01”W““ von C.T. Jasper und Joanna Malinowska die Bilder, die in meinem Kopf entstehen, untermalt. Besonders beeindruckt mich „Crossing the Mediterran“ von Ahmad Al-Nour und „Today I´am a refugee. I never wanted to be a refugee.“ von Chinira M. Wanjama – ich bekomme zwischendrin immer wieder Gänsehaut und ich muss vor mir selbst eingestehen, wie wenig ich eigentlich darüber nachdenke, warum jemand seine Heimat verlässt und was all die Menschen durchmachen, die über das Mittelmeer bei uns Zuflucht suchen.

Today I´m a refugee - Chinira M. Wanjama

Auf der Arsenale, einer alten Werft, ist mir das Tempo unserer Gruppe – ich bin mit Isaac Julien und einigen Studierenden der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe dort – ein wenig zu schnell. Nach dem wir gezielt Arbeiten besprochen haben, gehen wir für die restlichen Stunden alleine durch die Ausstellung. Ich setze mich in den Film „Factory Complex“ von Heung-Soon Im, der den diesjährigen silbernen Löwen der Biennale gewonnen hat und sich mit den Arbeitsbedingungen von Frauen aus der Arbeiterklasse auseinandersetzt. Der Film macht mich traurig, wütend und löst trotzdem Hilflosigkeit aus und bringt für mich das kuratorische Leitthema Kapitalfluss und die Auswirkungen des Kapitalismus auf den Punkt. Wobei der Trailer vorwiegend die künstlerischen Bilder wiedergibt, statt die Stimmen und jeweiligen Lebensumstände der Frauen, auf die im Film ausführlich eingegangen wird.

Factory Complex Trailer in IDFA 2014 Docs 4 Sale from Documentary Airways on Vimeo.

Nach „Factory Complex“ ist es mir nur noch begrenzt gelungen mich auf die anderen gezeigten Arbeiten einzulassen und so bin ich lieber durch die Stadt spazieren gegangen. Auf dem Weg habe ich neugierdehalber den Espace Louis Vuitton besucht, dessen Ausstellung den Vergleich mit der Kunst auf der Biennale, dem Licht im Aufzug und der neuen Buchabteilung im Haus nicht unbedingt Stand halten kann. Auf meiner Must-Have-Liste sind aber jetzt die Kinderbücher von Miroslav Sasek, die ich dort entdeckt habe.

Luis Vuitton

Fotografieren in der Henri Rousseau Ausstellung, im Dogenpalast, war verboten, aber so war es für mich eine im Dokumentationsrausch fast schon wieder vergessene Erfahrung, wie es ist die Aura von Ölgemälden nur in einem exklusiven Moment zu erfahren. Die Ausstellung zeigt und erläutert Rousseaus Werk und die „Unschuld des Archaischen“ im Kontext mit vielen anderen Arbeiten von Picasso, über Franz Mark zu Frida Kahlo.

Gegenüber des Dogenpalasts befindet sich der neuseeländische Pavillon in der Biblioteca Marciana am Ende des Markus Platzes mit dem Projekt „Secret Powers“ des in Berlin arbeitenden Simon Dennys, das mit jeglicher Ästhetik anderer Ausstellungen Rund um die Biennale bricht.

Secretpowers Simon Denny

In der Bibliothek hat Denny mehrere Server-Schränke neu ausgestattet und zu Vitrinen umfunktioniert, die die visuelle Kultur der NSA nachstellen und hauptsächlich von der Arbeit des ehemaligen NSA-Designers und Kreativ-Chefs des Verteidigungsgeheimdienstes David Darchicourt und dem Folienarchiv von Edward Snowden inspiriert sind.

Im zyprischen Pavillon lande ich, weil mir der Innenhof von Weitem so gut gefällt. Das Haus in dem „Two days after forever“ von Christodoulos Panayiotou gezeigt wird, hat wunderschönen Lichteinfall und stammt aus dem elften Jahrhundert. Die Werke hier referenzieren den Einfluss von Archäologie auf die Geschichtsschreibung und Materialität, die über die Jahre hinweg geschichtet wird. Die Arbeit „2008“ füllt einen Raum mit geschredderten zyprischen Pounds, die Panayiotou kurz nach dem Eintritt Zyperns in die Eurozone erworben hat und spielt auf den Übergang und die Veränderung von symbolischen Werten an. Auf dem folgenden Foto habe ich den für mich bezeichnenden Moment der Biennale bzw. des zeitgenössischen Kunstbetrachtens eingefangen – das fotografische Festhalten von guter Kunst für die Smartphone-Album-Sammlung:

"2008" von Christodoulos Panayiotou fotografiert von Zoe und Lene

Einen letzten aber langen Einblick auf aktuelle Kunstrichtungen kontextualisiert zu Meistern der Kunstgeschichte habe ich bei der von Danh Vo kuratierten Ausstellung „Slip of the Tongue“ im Punta Della Dogana bekommen und habe dort auch wieder feststellen dürfen: In der Kunst ist alles erlaubt, alles möglich, alles machbar – legitimiert man es geschickt.

Lee Lozano - Thinking Offer

Lee Lozano – Thinking Offer

Die im Zweijahresrhythmus stattfindende internationale Kunstausstellung Biennale di Venezia läuft noch bis 22. November 2015. Insgesamt präsentieren 28 Länder Pavillons mit nationalen Künstlern.

Was denkst Du?