Wer bin ich? Diese Frage hat sich Ulay in seinem Leben und Werk gestellt. Er ist der Identitätskünstler schlechthin und Begründer der performativen Fotografie. Bis Januar 2017 zeigt die Frankfurter Schirn eine ihm gewidmete Einzelausstellung, die ein großes Stück Identitäts-Kunstgeschichte ist.
Ulay liegt auf einem ledernen Therapeuten-Sessel. Über ihn beugt sich der Hypnoanalytiker Nikolai Hanf-Dressler. Um beide herum sitzt das Publikum, das zu seiner kleinen, intimen Performance „Who am I?“ im Rahmen der Ausstellung „Ulay Life-sized“ in der Frankfurter Schirn gekommen ist. Der Raum ist vorwiegend abgedunkelt, nur ein dämmriger Scheinwerfer ist auf den Hypnotiseur und den Künstler gerichtet.
„Wer bist Du?“ Diese Frage wird Hanf-Dressler dem Künstler in den nächsten anderthalb Stunden wiederholt stellen. „Wer bin ich?“ Das ist die Frage, die sich Ulay sein Leben und Werk lang selbst stellt.
Und wer ist Ulay?
Ulay, das ist der 1943 geborene Frank Uwe Laysiepen. Ulay, das ist der langjährige Performance-Partner von Marina Abramovic. Aber: Ulay, das ist ebenfalls der aus Deutschland stammende Künstler, der vorwiegend mit Polaroids gearbeitet und den Begriff „performative Fotografie“ geprägt hat.
Er ist auch der Jugendliche, der beide Eltern verliert. Ohne weitere Familienangehörige verbleibt. Zu ihm gehört gleichermaßen, dass er Ende zwanzig sein bürgerliches Leben, Frau und Kind zurücklässt. Wenig später zieht er nach Amsterdam und schließt sich der niederländisch-anarchistischen Bewegung PROVO an, deren Ziel es war, durch gewaltlose Aktionen gewalttätige Reaktionen von Behörden und sonstigen Autoritäten zu provozieren.
Polaroids als Methode der Selbstfindung
Im Interview mit Kurator Matthias Ulrich beschreibt Ulay sein „Auf-sich-selbst-gestellt-sein“ als Ausgangspunkt seiner Identitätsuntersuchungen, welche er hauptsächlich zwischen 1970 und 1975 als Aktionen und Performances ohne Publikum umsetzt, aber mit der Kamera dokumentiert. Er nennt derlei Serien – die auch in der Ausstellung gezeigt werden – „Auto Polaroid“. Dieser Begriff lässt mich an einen Vorgänger des Selfies denken. Das „Auto Polaroid“ als Vorbote für die permanente Identitätssuche einer ganzen Digital Natives Generation. Rückblickend darauf sagt Ulay: „Polaroid war eigentlich wie ein Spiegel. Der Spiegel gibt natürlich keine Antwort. Die Polaroidkamera gibt auch keine Antwort auf die wesentliche Frage „Wer bin ich?, weil eine Kamera darauf reduziert ist, nur das Äußerliche, die Oberfläche wahrzunehmen.“ (1)
Der eigene Körper als Projektionsfläche
1972 lässt sich Ulay auf seinen rechten Unterarm eintätowieren: GEN.E.T.RATION ULTIMA RATIO. Gleich im Anschluss lässt er sich ohne Narkose eben dieses Hautstück chirurgisch wieder entfernen und konservieren. Die Zeugen dieser Body-Art-Protest-Aktion gegen die Überbewertung der Genetik: der Chirurg, Ulay und eine Polaroidkamera Typ 107. Das entfernte Hautstück wird ordentlich gerahmt, die Polaroidfotografien auch. Die Arbeit beschreibt die Haut als Oberfläche, Leinwand und Ausdrucksform. Ferner überhöht sie das Tattoo in Folge der Konservierung: Von einem dauerhaften Ausdruck auf einem Körper, zu einem Ausdruck, der wohl selbst den eingeschriebenen Körper überleben wird.
Aufgebrochene Geschlechteridentität
„Anagrammatic Body von 2015“ wird überlebensgroß in zwei weißen Rahmen präsentiert. Links steht Ulay in einem blauen Outfit. Rechts ein weibliches Modell in einem pinken. Beide sind aus Einzelfotografien collagiert. Die Farbe der Kleidungsstücke verweist mir zu offensichtlich auf Gender. Trotzdem betrachte ich die Arbeit näher. Es stellt sich heraus, dass einige Einzelfotografien der jeweiligen Person Teile des Körpers der anderen Person zeigen.
Diese Arbeit scheint eine Neuauflage von Ulays „Anagrammatic Body Aphorism“ von 1974 zu sein. Warum es diese Neuauflage braucht, erschließt sich mir nicht. Dessen ungeachtet wirkt sie insgesamt deplatziert und aufgesetzt. Die Arbeit könnte durchaus als Werbeseite von „United Colors of Benetton“ in jeglichem Frauenheft laufen. Trotz bzw. gerade wegen des Hinguckers „faltiger Männerbauch“. Demzufolge entspricht das hier gezeigte „Weibliche“ recht genau dem Schönheitsideal dieser Hefte, die wiederum so gar nicht ein „normatives Identitätsideal überdenken“ – so der Anspruch der Arbeiten von 1974.
Zusammengesetztes Ich
Die inhaltliche Ebene der „Anagrammatic Body Aphorism“ Arbeiten gibt Einblick auf Ulays ständige Auseinandersetzung mit seiner weiblichen Seite. Sie eröffnet die Frage, welchen Einfluss das Mann- und Frausein auf Identität hat.
Mit drei Begriffen lässt sich die formale Ebene beschreiben: Fragmentiert, dekonstruiert und neu zusammengesetzt. Diese verweist über sich hinaus auf Ulays Auffassung, dass sich „Identität durch Wandel“ (2) auszeichnet, also nichts in sich Geschlossenes oder Abgeschlossenes ist.
Mir fehlt hier für eine „zeitgenössische“ Ausstellung allerdings absolut der Bezug zum Wandel der Identität durch das Internet. Hierzu hätte mich eine Neuauflage eines Werkes aus den 70ern doch sehr interessiert.
Überschreiten des Wach-Ichs
„Wer bist Du, Ulay“, frägt wieder Nikolai Hanf-Dressler. „Ich habe dicke Hände“, sagt Ulay. „Das mit den dicken Händen geht wieder weg, das ist nur eine Hypnose-Erscheinung“, sagt Hanf-Dressler. „Ich schaue meine Träne an und versuche sie zu trinken“, sagt Ulay. Eine Träne rinnt ihm tatsächlich über die Wange. „Gehe in die Lücke“, sagt Hanf-Dressler. Ich denke an die Lücke als Zwischenraum von Realität und Virtualität, aber das meint der Hypnoanalytiker wohl nicht. „Gehe zwischen Deinen Verstand. Wer bist Du, wenn Du nicht bewertest und interpretierst?“, sagt Hanf-Dressler. „Ich lebe Gefühle“, sagt Ulay. Und diese Aussage enttäuscht mich. Wohl wegen ihrer Einfachheit. Denn im Interview hatte Ulay noch gesagt: „Wer bin ich? ist die einfachste Frage überhaupt und am schwierigsten zu beantworten.“ (3)
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Die Ausstellung Ulay Life-Sized ist noch bis zum 08. Januar 2017 in der Schirn zu sehen. Am Freitag, den 4. November 2016 findet die Kuratorführung mit Matthias Ulrich statt.
Zitate (1) , (2) und (3) sind jeweils aus dem Begleitkatalog zur Ausstellung „Ulay Life-Sized“ entnommen.
(1) und (3) Der Körper ist das Medium par excellence, Matthias Ulrich im Gespräch mit Ulay, S. 23
(2) Ulay, Lebenslang lebensgroß; Matthias Ulrich, S. 58