Neue Läden? Haben doch selten greifbaren Charakter. Eine Architektur reift mit ihren Geschichten und den Menschen die sie nutzen. Das Münchner Theaterwissenschaftler-Kollektiv Cadam hat leerstehende Läden in Altbauten vom 11. bis 13. Oktober 2012 zu ihrer Bühne erklärt. Statt Dönerbude, Nagelstudio oder Schneiderei gleichen die Ladenbühnen von HiSTOR[E]y den Räumen eines Stundenhotels aus einem noch nicht existenten Alice im Wunderland Film, adaptiert von Wong Kar-Wai.
Auf dem Plakat zum Projekt, dass im Café Schiefer ausgehändigt wird, ist die jeweilige Route der einzelnen Gruppen eingetragen, mit drei Läden in denen zu festgelegten und getakteten Uhrzeiten eine Performance stattfinden wird. Auf dem Weg von einer Performance zur Anderen gibt es kleine Leuchtstationen mit Postkarten und Geschichten – zum Beispiel über das Heß-Stüberl.
Eine nächtliche Schnitzeljagd garniert mit Performance-Stücken beginnt also. Und ja, es gibt sie in München – freistehende Läden!
Tunesischer Salat wurde in der Augustenstraße 74 wohl vor kurzem noch verkauft. Jetzt nicht mehr. Die Uhr tickt. Mehrere Eieruhren ticken und neonfluoreszierend wandelt ein pinkhaariges Robotergeschöpf (Stephanie Felber) durch den Laden vor und zurück. Es mimmt typische Gesten, die sich bei der Vorbereitung von Sandwiches und anderen Mahlzeiten für den Verkauf, hätten abspielen können. Dem Zuschauer kommt das Robotergeschöpf oft bedrohlich Nahe, legt sich vor ihn hin auf den Pressspanboden und verschwindet wieder mit maschinellem Stakkato im dunklen Hinterzimmer.
Bei der nächsten Station, in der Theresienstraße 156, räkelt sich eine Leopardenlady (Amanda Billberg) im schleierhaften Dampf von drei Wasserkochern am Schaufenster. Ein skurilles Spektakel – mehrere vorbeigehende Fußgänger blinzeln verwirrt. Energisch wird nach kurzer Körperdarbietung in einen Vorraum eingelassen, der nach Hinten hin mit durchsichtigen, starken Plastikvorhängen abgeteilt ist. Die Vorhänge erinnern an den Übergang im Schwimmbad, in dem es nach Draußen ins Sole-Becken geht. Ein wenig so ist es auch wirklich. Im vorderen Teil, das Schaufenster mit Wasserkocher Wasserdampf, im hinteren Teil die hermetisch abgeteilte Kälte. Die Leopardenlady wirft unterdessen fordernd-aggressive Blicke um sich, schmiegt sich an, verschafft sich rücksichtslos Raum zwischen den Besuchern. Irgendwann zwängt sie sich durch die Plastikvorhänge und schlägt um sich, immer verzweifelter. Oder unendlich wütend. Bis sie am Boden liegt, fast kraftlos. Dann kriecht sie heraus und stellt sich in eine Nische. Diese seltsame Ecknische von der links und rechts Türen wegführen. Eine Heiligen-Nische. In ihren Leoparden-High-Heels stilisiert sie sich selbst zur Leoparden Madonna.
Die dritte und letzte Station in der Theresienstraße 75 ist vielleicht die femininste. Das Bühnenbild besteht aus vielen Details, die wie gemacht sind für kleine Prinzessinnen. Im Vorraum dreht sich keine Discokugel, aber ein Kronleuchter. Er glitzert zauberhaft und streut kleine Reflexlichter auf den verlebten Fischgrätenparkett. Beim Eintreten riecht es nach Weihnachten und Kachelöfen, mit ein bißchen Bienenwachs. Nichts dieser Assoziationen gibt es dort wirklich. Im Gang schweben bunte Heliumluftballons mit kleinen LED-Lämpchen gefüttert an der Decke. In einer Ecke liegen Goldsterne und Konfetti. Im Raum nach dem Gang vernimmt man Krazgeräusche, dann sieht man sie, die Ballerina (Kathrin Knöpfle) in Tütü und durchsichtigem Reifrock. Sie hört mit einem Mikrofon die Wand ab. Streichelt, schlägt, kratzt die Wand mit dem Mikrofon – der Besucher hört die Wand also erzählen. Die Reifrock-Ballerina ist das Medium, das versteht Geheimnisse aus den Gemäuern zu wecken. Dabei ist sie weniger Ballettänzerin, sondern ergibt sich der Brutalität des zeitgenössischen Tanzes. Keine Angst vor Schmerzen und vor aufgeschubberter Haut an den Händen vom an der rauhen Wand reiben. Wie es an die Wand schlägt, so schlägt sie auch zurück.
Wände speichern Geschichten. Auch Läden. Wer gut hinhört kann sie flüstern hören. Und wer nicht so gut hört, kann bei HiSTOR[E]y zusehen wie Stephanie Felber, Amanda Billberg, Kathrin Knöpfle und das Team von CADAM die Geschichten der Läden aufbereitet haben. Karten gibt es leider keine mehr – HiSTOR[E]y ist schon ausverkauft. Es scheint ein viel versprechendes Geschäft zu sein – mit der kulturellen Zwischennutzung von Läden!
Fotos: Veronika Christine Dräxler/ Natalie Mayroth
[…] Veronika Christine Dräxler auf Selbstdarstellungssucht.de […]