Auf den Spuren der Pop Kultur

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Berlin wird nicht müde, sich neu zu erfinden. Somit musste das verstaubte Konzept der „Music Week“ überholt werden, von der sich das Berlin Festival längst abgekoppelt hat. Was daraus entstanden ist? Das dreitägige Pop Kultur Festival, das außer Live-Musik auch Lesungen und Talks auf dem Gelände des Berghains bietet. Statt Diskussionen zwischen Geschäftsmänner über Interna des Musikbusiness – wie es die vergangenen Jahre Tradition war – findet an den ersten beiden Tagen ein Workshop für den Nachwuchs statt, bei dem Naomi, die extra aus London angereist kam, und ich teilgenommen haben. Tim Renner spricht in diesem Jahr zu uns – und nicht mit den Firmenchefs auf der Bühne. Doch sein Ton hat sich verändert: Seine Schärfe bleibt aus, das Feindbild ist weg gefallen –  das passiert, wenn man als Politiker plötzlich Berlin offiziell vertritt und um die Gunst der jungen Kreativen wirbt.

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Tag 1 – Für Minuten zu den Nerven schweben

Seit 10 Uhr morgens bin ich auf dem Gelände des Bühnen Services der Oper, das sich zwei Gehminuten vom Berghain befindet. Nach drei Popkultur-Workshops, unter anderem bei Berlins Pop-Kritiker Nummer eins: Jens Balzer, fahre ich noch zum Ostbahnhof um meinen Computer sicher im Schließfach zu verstauen. Kaum zurück beginnen auch schon die ersten Konzerte. Bianca Casady, eine der Coco-Rosie-Schwestern, mit ihrer Zirkus-Band „CiA“ ist ein optisches wie musikalisches Highlight. Zu Beginn ist nur ein Video in Rob-Zombie-Optik (allerdings in Schwarz-Weiß) zu sehen, das mich aber sofort in seinen Bann zieht. Eigentlich wollte ich schon längst zu den anderen Bühnen weiterziehen, doch ich bin zu neugierig, was noch passieren wird. Eine Gestalt tanzt. Die Leinwand geht hoch. Dahinter steht eine Frau im sackigen Kleid mit engelsgleichen Flügeln und einer schweren, grobgliedrigen Kette um den Hals, einen Hut ins Gesicht gezogen auf der Bühne. Neben einer Band, hat sie einen Clown neben sich, der die Aufmerksamkeit des Publikums mit seinen Einlagen zwischen Tanz und Akrobatik bündelt.

Nach diesem Konzert bin ich unterwegs zwischen Berghain und der Kantine, dort entdecke ich die Bands Zentralheizung of Death und Isolation Berlin für mich – und auch den Backstagebereich. Der Zugang dort hinein ist etwas kompliziert. Hier ist es gut, um ein wenig herunterzukommen und zu entspannen, ich treffe außerdem auf schreibende oder feiernde Kollegen. Mit Arkadij vom Blog Ruhmsucht und Roland Owsnitzki, den Hausfotograf der Berlin Zeitung stoße ich an und auch Jens Balzer zählt zu den Gästen im Garten. Mit einem Musiker an meiner Seite mache ich einen Abstecher zu Owen Pallett, der ein zehnköpfiges Orchester dirigiert. Was ich dort höre, erinnert mich an kitschig schöne Disney-Filmmusik. die_Nerven_Popkultur_2015

Am meisten freue ich mich auf die Band die Nerven, die in der Kantine am Berghain spielt und bei ihren Auftritt die Nerven verliert. Ich habe die Drei-Mann-Band aus Stuttgart bisher noch nicht live erlebt, doch ich kann sogar einen Technofreund dafür begeistern. Fast apathisch stehen die beiden Sänger Max und Julian auf der Bühne mit ihrem Schlagzeuger Kevin, der es vor Hitze kaum aushält. Im Publikum sehe ich auch ihr Cover-Mädchen, das in der zweiten Reihe tanzt, während die Nerven extatisch und geladen das Publikum zum Pogen bringen. Sie setzen ein mit „Ich bin der letzte Tanzende“. Sie spielen auch mit „Barfuß durch die Scherben“, einen Song der neuen Platte „Out“, die Freitag, den 09.10. erscheint. Je näher das Ende des Konzertes kommt, desto mehr ziehen sie sich aus. „Wir können nicht mehr, wir sind zu fertig“, sagt Julian. Max liegt rechts vom ihm auf dem Boden, der Schlagzeuger ist mittlerweile nackt. Das sind die letzten Worte bevor sie die Bühne schweißgebadet verlassen – Max oben ohne, seine Schuhe in der Hand. Für eine Zugabe sind wie wohl wirklich zu fertig.

Interview_Selfie_Natalie_HendrikTag 2 – Von Oral History zum Interview mit Messer-Sänger Hendrik

Das Aufstehen fällt Naomi und mir nach dem ersten Festivaltag gar nicht so leicht. Am Mittwoch trennen sich unsere Wege, da ich nur journalistische Workshops belege und Naomi sich mehr für die Musik-Workshops interessiert. Bei Border Movement, einem Projekt, das den Austausch zwischen westlicher und Musik aus Asien fördert, sitzen wir wieder zusammen. Danach folgt bei A. J. Samuels, Chefredakteur des englischsprachigen Musikmagazins Electronic Beats, Aufklärung über die hohe Kunst der Oral History. Nebenbei erklärt er noch, wie sein Magazin funktioniert: Sie setzen zum Beispiel darauf, Musiker Musik rezensieren zu lassen oder bringen zwei sehr unterschiedliche Künstler zum gemeinsamen Gespräch wie die Produzentin Fatima Al Qadiri und den Dichter Kenneth Goldsmith. Neuigkeiten aus der Berliner Club Welt erhoffe ich mir beim letzten Get-togehter mit Vertretern der Club Commission, ein Zusammenschluss von Club-, Party- und Kulturveranstaltern in Berlin. Sie erzählen von ihren Projekten: dem Clubkataster – den ich schon kenne und ihrer Beratungstätigkeit rund um Veranstaltungen und Open Airs … doch mit meinen Gedanken bin ich da schon bei meinen Interview mit Hendrik Otremba von Messer. Die Zeit vor dem Gespräch nutze ich noch mir die letzten Songs von Neneh Cherry auf der Bühne anzuhören, bevor wir uns draußen im Biergarten treffen.

Popkultur_2015_Hendrik_IMG_8779Gegen 24 Uhr ist es so weit: Messer spielen in neuer Formation mit Milek und sechs neuen Songs im Gepäck. Sie klingen viel experimenteller, als ich sie das letzte Mal im Beiruth gehört habe. Hendrik wirkt beim Singen energetisch geladen, teilweise abwesend wie an einem anderen Ort. Seine Stimme ist kräftig und rau zugleich, damit verschafft er sich Präsenz. Nach dem Konzert bleiben wir noch ein bisschen auf dem Gelände, irgendwann fängt es an zu regen und ein Taxi bringt Naomi und mich nach Hause – schlafen war selten so schön.

popkultur_Berlin_2015Tag 3 – Pop & Good Bye

Nach diesen zwei Tagen bleibt der Wecker auf Schlummern gestellt. Wir lassen den Tag langsam angehen. Gegen 18 Uhr treffe ich wieder auf dem Berghaingelände ein, da ich noch ein Foto für das Interview mit Hendrik schieße. Ich höre mir das Gespräch mit Bernard Sumner an, der unter anderem von seiner Jugend erzählt – „New Order, Joy Division und ich“ – heißt seine Autobiografie. Nach dem Fototermin schaue ich mir Hip-Hop-Punkrock mit Ho99o9 an – einer ungewohnten Mischung von Jungs, die auf Kostüme stehen.

Im Verlauf des Abends sehe ich noch das amerikanische R’n’B-Duo 18+, doch ihr Auftritt im Sommer auf dem CTM, hat mich mehr gepackt und ich unterhalte mich lieber draußen mit Freunden, bis die Spex-Session beginnt. Auf der Bühne sitzt Chefredakteur Thorsten Groß umringt von Frauen, „die es geschafft haben“, sich in der Musikbrache durchzusetzen. Mir gefällt die Art und Weise dieses Pop-Diskurses nicht. Es ist schön, dass es dieses Jahr eine „Female Issue“ der Spex mit mehr Texten von Frauen über Frauen gab, doch das ändert nichts an dem Problem, dass Frauen unterrepräsentiert sind (die Verteilung der Spex-Print-Redaktion ist 1:3) und diese Frauen als „seltene Exemplare“ auf der Bühne zu stilisieren, macht es meiner Meinung nach nicht besser. – Für eine Ankündigung im Programmheft des Festivals hat es dann nicht gereicht, die Namen von Balbina, Sandra Grether, Anne Haffmanns und Theresa Lehmann aufzuführen.

Nach einer Viertelstunde verabschiede ich mich wieder, um nicht das letzte Konzert, das ich mir auf meinem Timetable markiert habe, zu verpassen: Kero Kero Bonito, Freunde von Naomi aus London. Quitschiger, leichter K-Pop entlässt mich glücklich in den Abend. Auf der Bühne singt Sahra in ihrem pinken Outfit, begleitet von Gus und Jamie, die mit Keyboard und Synthesizer gameboyartigen Töne produzieren. Ich spaziere noch einmal zwischen Backstage, Panoramabar und Berghain und als es fast am schönsten ist, schleiche ich mich davon, da ich noch eine Verabredung habe. Mein Abend endet gegen fünf Uhr morgens: Ich warte mit Naomi am Ostbahnhof auf ihren Zug zum Flughafen. Ich bin sicher, zum nächsten Festival kommt sie wieder.

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