Auch Sie, liebe Sächsinnen und Sachsen, sind Menschen

Wer bin ich im Netz und wer will ich sein? Social-Media-Profile sind hungrig! Sie wollen gepflegt und aktualisiert werden. Mit der Kolumne „Profilneurose“ reflektieren wir Verhalten in den sozialen Medien zwischen politischem Streitthema und kreativem Impulsgeber.

Liebe Sächsinnen und Sachsen,

so beginnt ein Video der sächsischen Schriftstellerin Heike Geißler. Um vier Uhr Montagmorgens hat sie eine „nächtliche Amtsantrittsrede der neuen sächsischen Ministerpräsidentin“ auf Vimeo gestellt. Geißler verkündet, sie sei die neue sächsische Ministerpräsidentin und hält, unter dem schummrigen Licht einer Schreibtischlampe, eine Rede:

Nächtliche Amtsantrittsrede der neuen sächsischen Ministerpräsidentin from Heike Geißler on Vimeo.

„Liebe Sächsinnen und liebe Sachsen. Ich bin ein Mensch. Auch Sie, liebe Sächsinnen und Sachsen, sind Menschen. Außerdem sind alle, die sie kennen, und alle, die Sie nicht kennen, Menschen. Auch jene, die manche von Ihnen, liebe Sächsinnen und Sachen, nicht kennen lernen oder sehen oder wahrhaben wollen, sind Menschen. Das dürfen Sie nicht vergessen. Manche von Ihnen haben das leider vergessen. Manche von Ihnen haben das nie gewusst.“

Über sechs Minuten lang führt Heike Geißler aus, was sie gerne von anderen Politikern gehört hätte. Dass ihre „Vorgänger und Vorgänger der Vorgänger es die ganze Zeit versäumt haben, den Katastrophenfall auszurufen“. Natürlich ist das ein Prank! Heike Geißler ist nach wie vor Schriftstellerin und Stanislaw Tillich nicht abgelöst.

Sie spielt an die fremdenfeindliche Situation in Sachsen an, die besonders in Protesten in Freital ihren Höhepunkt gefunden hat und fordert mehr Toleranz. Bereits viele Stimmen im Netz haben sich gegen Fremdenfeindlichkeit geäußert, etwa Janko Tietz von Spiegel Online. Heike Geißler setzt mit ihrem Video einen kreativen Beitrag oben drauf. Sie hat bereits einen weiteren Netzhype ausgelöst, und mit über 12000 Plays viele Leute zum Schmunzeln und Teilen gebracht.

Wie kam es zu dem Video? „Mir war nämlich plötzlich so.“, steht darunter und inspiriert sei das Video durch zwei Zeilen von „Ton, Steine und Scherben“, womit wohl der Song „Mein Name ist Mensch“ von selbiger Band gemeint ist.

Erst letzte Woche hat die ARD-Moderatorin Anja Reschke mit ihrem Video-Kommentar über die Netzdebatte zur Flüchtlingslage eine Menge Aufsehen erregt und viele Stimmen gefunden, die sie unterstützen. Zur Zeit gehen sie ziemlich viral, die Kommentatoren-Videos. Menschen zeigen sie Gesicht, um für Flüchtlinge einzustehen. Oder anders ausgedrückt: Selbstdarstellung – für einen guten Zweck.

Wir vom Blog sind immer wieder mit der Aussage konfrontiert, dass Selbstdarstellung etwas Negatives sei und egozentrisch. Die Beispiele Anja Reschke und Heike Geißler zeigen, dass das nicht so sein muss. Selbstdarstellung gab es schon immer – vielmehr ist sie mit dem Internet um eine einfache Vertriebsmöglichkeit erweitert worden. Botschaften lassen sich in personalisierter Form mit zwei Klicks in ein riesengroßes Netzwerk schicken.

Da nimmt sich jemand Sonntagnacht die Zeit dafür, ein Video von sich selbst zu drehen, und verbindet seine Person, seinen Namen mit einer Aussage, die bei vielen Menschen ankommt. Eben durch diese Ausstrahlung und den Mut, dass das Video nicht anonym gepostet wird, gewinnt es an Kraft und rüttelt hoffentlich auch den ein oder anderen Rassisten auf. Wir sagen: mehr davon.

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